- Datum:11. April 2019
- Interview mit: BKA-Präsident Holger Münch
- Interviewer: Holger Stark und Heinrich Wefing, "DIE ZEIT"
DIE ZEIT: Herr Münch, wir wollen mit Ihnen über Kriminalität in Deutschland sprechen. Liest man die Boulevardzeitungen oder glaubt man manchen Seiten im Internet, könnte man meinen, auf deutschen Straßen regiere das Verbrechen. Wie schlimm ist die Lage?
Holger Münch: Mit der Polizeilichen Kriminalstatistik haben wir eine objektive Datenbasis, die das Hellfeld der Kriminalität in Deutschland erfasst. Die kürzlich veröffentlichten Zahlen für 2018 zeigen: Die Kriminalität geht zurück. Wir haben bei den Fallzahlen den niedrigsten Stand seit 1992, gemessen an den Straftaten pro Einwohner. Der Gesamttrend ist positiv. Man kann sagen: Die Sicherheitslage in Deutschland ist gut.
ZEIT: Schauen wir uns die Zahlen genauer an. Bei Wohnungseinbrüchen registrieren Sie einen Rückgang um 16 Prozent, bei sexuellen Übergriffen und Vergewaltigungen sind es minus 18 Prozent. Und die Straßenkriminalität ist seit 2004 sogar um ein Drittel zurückgegangen. Woran liegt das?
Münch: Zum einen gibt es seit Jahren einen gesellschaftlichen Trend hin zu einer sinkenden Akzeptanz von Gewalt – deshalb gehen auch die Gewaltdelikte zurück. In manchen Bereichen bleibt die Kriminalität dagegen konstant, etwa bei Tötungsdelikten, die häufig Beziehungstaten sind. Und in wieder anderen Bereichen ist der Kontrolldruck der Polizei entscheidend, wie etwa bei Wohnungseinbrüchen. Da gab es über Jahre einen Anstieg. Darauf hat die Polizei reagiert, etwa durch die Einrichtung von Sonderkommissionen und Ermittlungsgruppen. Aber auch mit einer verstärkten Präventionsarbeit wie der Kampagne „Keinbruch“ Der erhöhte Verfolgungsdruck wie auch eine zunehmend bessere technische Sicherung von Wohnungen und Häusern führen dazu, dass sich viele Täter zurückziehen oder ausweichen.
ZEIT: Manche Straftaten tauchen in der Statistik gar nicht auf, etwa Terrorismus. Bei anderen wie Drogenhandel hängt es davon ab, wie intensiv die Polizei kontrolliert. Die Frage ist, wie aussagekräftig Ihre Zahlen sind.
Münch: Die Kriminalstatistik ist ein Ausschnitt der Kriminalitätslage in Deutschland. Sie erfasst nur die von der Polizei registrierten Straftaten. Daneben gibt es ein Dunkelfeld, also Straftaten, die der Polizei nicht zur Kenntnis gelangen, weil Opfer beispielsweise keine Anzeige erstatten. Um dies besser zu erfassen, haben wir gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut eine repräsentative Umfrage unter mehr als 31.000 Menschen durchgeführt. Dieser so genannte Viktimisierungssurvey zeigt, wie oft Menschen Opfer einer Straftat wurden.
Ein Ergebnis lautet, dass dies nur sehr selten der Fall ist. Ein weiteres: Das Anzeigeverhalten hat sich in Relation zur letzten Umfrage 2012 nicht wesentlich geändert. Das Verhältnis zwischen Hell- und Dunkelfeld ist also unverändert. Wir können deshalb davon ausgehen, dass die PKS gerade bei den Gewalt- und Eigentumsdelikten die tatsächliche Entwicklung gut widerspiegelt. Die Umfrage zeigt auch, dass es Deliktsfelder mit einem sehr großen Dunkelfeld gibt, weil dort die Anzeigebereitschaft wenig ausgeprägt ist, etwa in den Bereichen Betrug oder Cybercrime.
ZEIT: Bei Ihrer Umfrage sticht eine Zahl besonders heraus: in den ostdeutschen Ländern geben die Befragten an, deutlich seltener Opfer von Kriminalität zu werden als etwa in Hamburg, Bayern oder Berlin. Gleichzeitig haben die Menschen in Sachsen-Anhalt und Sachsen so viel Angst wie in keinem anderen Bundesland. Was sagt das über die Psychologie des Ostens aus?
Münch: Kriminalität und die Furcht davor hängen generell nur sehr entfernt miteinander zusammen. Das ist überall so, nicht nur in den ostdeutschen Bundesländern. Dass Menschen Angst davor haben, Opfer einer Straftat zu werden, kann viele Ursachen haben. Das eigene Erleben, Opfer von Kriminalität zu werden, ist - weil sehr selten - nur ein untergeordneter Faktor. Angst lösen eher andere Dinge aus: Die subjektive Einschätzung, ob Gewalt zunimmt oder nicht, die Wahrnehmung des eigenen Umfeldes, fühle ich mich da sicher? Ein anderer Faktor ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung. Wenn beispielsweise die Angst vor Arbeitslosigkeit zunimmt, verschlechtert sich auch das Sicherheitsgefühl, weil die Menschen sich verletzlicher fühlen. Ein wichtiger Faktor ist auch die Berichterstattung in den Medien und der Austausch in den sozialen Netzwerken. Intensive Berichterstattung über Verbrechen, Einzeltaten über die spektakulär berichtet wird, verzerren die Wahrnehmung von Kriminalität und tragen dazu bei, die Furcht, selbst Opfer eines Verbrechens zu werden, zu steigern.
ZEIT: Geben Sie uns ein Beispiel.
Münch: Nehmen Sie den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz und die Berichterstattung zur terroristischen Bedrohung. Die Angst vor Terroranschlägen ist, das zeigt der Victimisierungssurvey, sehr verbreitet, obwohl die Wahrscheinlichkeit, wirklich zum Opfer eines Anschlags zu werden, sehr gering ist. Das hat auch mit der Berichterstattung über den Anschlag zu tun. Medienberichterstattung löst Angst nicht aus, kann sie aber, wie aus Studien hervorgeht, verstärken.
ZEIT: Das Bedrohungsgefühl und die objektive Zahlen entkoppeln sich – die Kriminalität sinkt, aber die Angst steigt?
Münch: Ja, diese Entkoppelung gibt es leider. In Zeiten allgemeiner gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Verunsicherung ist das Bedrohungsgefühl größer, und das spiegelt sich in der Furcht vor Kriminalität wider.
ZEIT: Der Konstanzer Jurist Wolfgang Heinz spricht von „Medienkriminalität“, die wenig mit der objektiven Lage zu tun habe. Hat er Recht?
Münch: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Unsere aktuellen Zahlen aus der Opferbefragung zeigen, dass es unter Frauen eine wachsende Furcht vor sexuellen Übergriffen gibt. Ich glaube, dass das auch mit der intensiven Berichterstattung in den Medien über herausragende Einzelfälle zu tun hat. Das prägt die eigene Wahrnehmung – während die tatsächlichen Fallzahlen sinken.
ZEIT: Nun ist nicht berichten für kritischen Journalismus keine Option. Wünschen Sie sich manchmal, dass die Medien anders berichten, zurückhaltender?
Münch: Den Medien kommt eine wichtige Aufgabe in unserem Land zu. Damit ist aber auch eine große Verantwortung verbunden. Ich würde mir daher wünschen, dass Journalisten die Auswirkungen ihrer Berichterstattung sehr genau reflektieren. Medienanalysen zeigen beispielsweise, dass sich die Berichterstattung über die Gewaltkriminalität von Zuwanderern im Jahr 2017 deutlich von der in 2014 unterscheidet. Über die nichtdeutsche Herkunft von Tätern wurde viermal so häufig berichtet, über die nichtdeutsche Herkunft von Opfern von Gewaltdelikten aber nur halb so oft.
ZEIT: Wie kommt es, dass heute ausgerechnet manche Konservative, die es früher stets mit Recht und Ordnung hielten, der Polizei unterstellen, sie frisiere Zahlen oder halte die Wahrheit zurück?
Münch: Das ist leider so, auch wenn es nur ein kleiner Ausschnitt der Bevölkerung ist. Womöglich steht dahinter, bewusst oder unbewusst, eine Strategie: Wenn ich nicht will, dass mit unseren Zahlen argumentiert werden kann, muss ich die Glaubwürdigkeit desjenigen angreifen, der die Zahlen erhebt. Ein Muster, wie es beispielsweise im Gerichtssaal zu beobachten ist, wenn die Glaubwürdigkeit von Zeugen in Frage gestellt wird. Aber das darf nichts an unserer Haltung ändern. Wir fühlen uns der Objektivität verpflichtet und so informieren wir auch.
ZEIT: Sprechen wir über die Kriminalität von Zuwanderern. Der Anteil der tatverdächtigen Zuwanderer ist um knapp ein Prozent gesunken. Beruhigt sich die Lage im Land?
Münch: Prinzipiell ja. Sorge bereitet uns allerdings die Zunahme von Mehrfach- und Intensivtätern unter den Zuwanderern. Deren Anteil ist mit 33 Prozent überdurchschnittlich hoch, was auf eine besondere Häufung aus bestimmten Herkunftsländern, etwa aus den Maghreb-Staaten, Libyen und Georgien sowie einigen afrikanischen Staaten zurückzuführen ist. Diesen gilt es unmissverständlich klarzumachen, dass sie sich an Regeln halten müssen, weil sonst die Aufenthaltsbeendigung droht.
ZEIT: Also mehr Abschiebungen?
Münch: Eine konsequente Abschiebung der Personen, die unsere Gesetze nicht akzeptieren und gegen sie verstoßen. Hierfür müssen wir kriminelle Karrieren frühzeitig erkennen können. Wir verfolgen gemeinsam mit den Bundesländern das Ziel, dort vorhandene Konzepte zur Bekämpfung ausländischer Mehrfach- und Intensivtäter in ein bundesweites Konzept zu integrieren und länderübergreifend Erkenntnisse zusammenzufügen. Es geht beispielsweise auch darum, bei den Zuwanderern, die als Mehrfach- und Intensivtäter auffallen, automatisch eine Widerrufsprüfung des Aufenthaltsstatus auszulösen und aufenthaltsbeendende Maßnahmen zu priorisieren.
ZEIT: In den vergangenen Monaten hat die Polizei nicht nur bei der Aufklärung von Verbrechen Schlagzeilen gemacht, sondern auch, weil manche Beamte in rechtsradikale Aktivitäten verwickelt waren. In Frankfurt gehen Ermittler sogar dem Verdacht nach, eine Zelle innerhalb der Polizei sei am Versand von Drohbriefen mit rechtsextremem Inhalt an eine türkischstämmige Rechtsanwältin beteiligt. Für das Vertrauen in die Integrität der Polizei ist das desaströs.
Münch: Ja, das ist so. Bei 260.000 Beschäftigten der Polizeien in Bund und Ländern ist nicht auszuschließen, dass sich darunter auch schwarze Schafe befinden. Aber das ändert nichts daran, dass das nicht zu akzeptieren ist.
ZEIT: Sehen Sie eine Zunahme solcher Fälle bei den anderen Polizeibehörden?
Münch: Derzeit gibt es dafür keine Belege. Aber natürlich fragen wir uns: Ist das eine zufällige Häufung oder gibt es dahinter ein Muster?
ZEIT: Und, ist das eine zufällige Häufung oder gibt es dahinter ein Muster?
Münch: Das kann ich aufgrund der geringen Zahl der Fälle nicht sagen. Aber wir sind in der Pflicht, dieses Thema ständig im Auge zu behalten und schon in der Ausbildung mit geeigneten Maßnahmen wie der politischen Bildung und Vermittlung von Werten anzusetzen. Denn nur eine integere Polizei bekommt das notwendige Vertrauen der Bevölkerung entgegengebracht.
ZEIT: Neigen Polizeibeamte nach rechts?
Münch: Ich frage nicht danach, was Polizisten wählen. Die allermeisten haben eine starke Werteorientierung. Sie wollen helfen, Verbrechen aufklären. Das ist ein positives Motiv. Aber viele Polizeibeamte sehen in ihrem Alltag vor allem die negativen Seiten der Gesellschaft. Das prägt natürlich und das muss man immer wieder reflektieren. Leider kommt es auch vor, dass in den Reihen der Polizei Personen auffallen, wo man sagen muss: Die gehören aufgrund ihrer Haltung und ihres Verhaltens nicht in die Polizei. Die müssen wir aus dem Dienst entfernen.
ZEIT: Kann ein so genannter „Reichsbürger“, der das Grundgesetz ablehnt, Polizist sein?
Münch: Nein.
ZEIT: Der Anschlag im neuseeländischen Christchurch, wo ein Rechtsextremist 50 Muslime erschossen hat, hat die Menschen auch hier sehr aufgewühlt. Ist ein solcher Anschlag auch in Deutschland möglich?
Münch: Wir haben in den vergangenen Jahren bei den Anschlägen auf Asylbewerberheime festgestellt, dass die meisten Täter bislang nicht polizeilich aufgefallen waren – und von denen, die polizeibekannt waren, traten die meisten nicht wegen politischer Delikte polizeilich in Erscheinung. Die Mobilisierung durch das rechte Spektrum im Zuge der starken Zuwanderung im Jahr 2015 hat Menschen, die bis dahin nicht auffällig waren, dazu gebracht, Gewalt gegen Sachen und Menschen einzusetzen. Aus diesen Erfahrungen heraus müssen wir auch damit rechnen, dass sich rechte Terrorzellen bilden können. Wir haben das etwa in Freital gesehen oder bei der sogenannten „Old School Society“ in Sachsen. In beiden Fällen sind Polizei und Justiz sehr früh eingeschritten und haben diese Gruppen zerschlagen. Das ist eine Lehre, die wir aus den Ermittlungen zum sogenannten „NSU“ gezogen haben und gemeinsam mit dem Generalbundeswalt seither verfolgen. Unser zweiter Ansatz ist es, Hasskriminalität entschieden entgegenzutreten...
ZEIT: ...also Angriffe, die sich gegen bestimmte Minderheiten richtet.
Münch: Richtig, wir setzen da schon bei der Hetze im Netz an. So haben wir beispielsweise gemeinsam mit den Ländern bereits zwei sogenannte „Action Days“ durchgeführt. Im Rahmen dieser Aktionstage sind wir bundesweit koordiniert gegen Hasskriminalität vorgegangen. Unsere Botschaft: Wir dulden so etwas nicht und gehen dagegen entschlossen und frühzeitig vor. Dennoch kann man auch bei uns eine Tat durch einen radikalisierten Einzeltäter wie in Christchurch nie ausschließen.
ZEIT: Wenn Sie ein Verbrechen lösen könnten, das nie aufgeklärt wurde – welches würden Sie wählen?
Münch: In meiner Zeit in Bremen ist ein Mädchen auf dem Weg nach Hause entführt worden, ihre Leiche wurde später in der Nähe in einem Waldgebiet gefunden. Adelina hieß es, der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt worden. Das hat mich damals als verantwortliche Führungskraft sehr betroffen gemacht und bewegt mich noch heute. Als Präsident des BKA sind es Fälle wie der Anschlag vom Breitscheidplatz, wo ich akzeptieren muss, dass wir beispielsweise nicht jeden Kontakt des Täters aufklären können. Das lässt bisweilen Raum für Verschwörungstheorien, so unbefriedigend das für mich auch ist.