- Datum:26. Januar 2021
- Interview mit: BKA-Präsident Holger Münch
- Interviewer: Hans-Jürgen Deglow
BKA-Chef Holger Münch erklärt, dass Kriminalität mobiler, vernetzter und internationaler wird und sich zunehmend modernster Technologien bedient - mit der Folge sich wandelnder und zum Teil auch neuer Aufgaben für das Bundeskriminalamt. Die Corona-Krise verschiebt Kriminalitätsschwerpunkte. So wurden während des ersten Lockdowns deutlich weniger Autos gestohlen - weil sie wegen Home-Office in Garagen blieben, so Münch. Das Bundeskriminalamt erreichen zudem immer wieder Hinweise von Oppositionellen oder Dissidenten, die sich von ausländischen Mächten bedroht fühlen.
Herr Münch, 2020 war ein Jahr der großen Herausforderungen. Wie hat sich die Arbeit Ihres Amtes und dessen Mitarbeiter verändert?
Holger Münch: Unsere Art zu arbeiten ist vor allem noch flexibler und digitaler geworden. Durch die Arbeit über drei Standorte war es im BKA schon vorher üblich, viele Besprechungen per Video- oder Telefonkonferenz abzuhalten. Das hat im Zuge der Corona-bedingten Reise- und Kontaktbeschränkungen noch einmal deutlich zugenommen – ebenso wie das Arbeiten im Homeoffice, um die Ansteckungsrisiken weiter zu minimieren. Wir sehen: Das klappt, auch wenn sich nicht alle Bereiche der Polizeiarbeit ins Homeoffice verlagern lassen. Aber wir haben im Zuge der Pandemie-Bewältigung viele neue Tools eingeführt sowie Regelungen und Arbeitsabläufe angepasst, um möglichst ortsunabhängig und flexibel arbeiten zu können.
Gibt es etwas, bei dem Sie sagen würden: Diese Veränderung sollten wir aufgrund der Erfahrungen auch in die Nach-Corona-Zeit hinüberretten?
Münch: Unsere flexiblere Art zu arbeiten hilft uns, uns noch schneller auf neue Herausforderungen einzustellen. Das werden wir brauchen. Wir erleben seit vielen Jahren, dass Kriminalität mobiler, vernetzter und internationaler wird und sich zunehmend modernster Technologien bedient. Dieser Prozess wird sich weiter beschleunigen – mit der Folge sich wandelnder und zum Teil auch neuer Aufgaben für das Bundeskriminalamt. Wir sind die größte Ermittlungsbehörde und die Zentralstelle der Polizei in Deutschland. Unsere Aufgabe ist es, nicht nur das BKA zukunftsfähig aufzustellen. Wir leisten auch unseren Beitrag, den polizeilichen Verbund in Deutschland fit für die Zukunft zu machen.
Inwieweit haben sich Kriminalitätsschwerpunkte während der Corona-Pandemie verlagert?
Münch: Auch für Straftäter haben sich die Bedingungen - wir nennen das Tatgelegenheiten - stark verändert. So stellen wir insbesondere bei Betrugstaten und verschiedenen Formen der Cybercrime fest, dass Kriminelle ihr Vorgehen an die aktuellen Rahmenbedingungen anpassen – mit dem Ergebnis steigender Fallzahlen zum Beispiel bei Phishing- und Spammails sowie beim Subventionsbetrug im Zusammenhang mit den Corona-Soforthilfen. Gleichzeitig sehen wir in einigen Bereichen aber auch, dass die Kriminalität abnimmt, beispielsweise bei Gewaltdelikten, den Wohnungseinbrüchen oder beim Taschendiebstahl. Gerade in einem Lockdown, wenn die Geschäfte geschlossen sind und sich die Menschen bevorzugt zu Hause aufhalten, fallen viele Tatgelegenheiten für Kriminelle weg.
Die Internationale Polizei-Organisation Interpol spricht von einer „Parallel-Pandemie des Verbrechens”. Mit dem Ausrollen der Impfstoffe werde die Kriminalität dramatisch steigen, sagte Interpol-Generalsekretär Jürgen Stock jüngst. Teilen Sie seine Einschätzung?
Münch: Die Kriminalität ist insgesamt durch die Beschränkungen eher rückläufig, aber sie verändert sich. Generell gilt, dass sich kriminelle Energie bevorzugt dort entfaltet, wo Schwachstellen oder finanzielle Vorteile locken. Es ist unsere Aufgabe als Polizei, sowohl langfristige Entwicklungen als auch kurzfristige Trends zu analysieren und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Dementsprechend beobachten wir die Kriminalitätsentwicklung im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gemeinsam mit den anderen Sicherheitsbehörden, erkennen Risiken und reagieren darauf. Beispielsweise findet ein entsprechender Austausch mit gefährdeten Firmen oder Einrichtungen, auch mit Betreibern von Impfzentren, statt. Schutzkonzepte werden entwickelt und umgesetzt. Lassen Sie mich aber eines klarstellen: Konkrete Hinweise auf eine akute Gefährdung in Deutschland liegen derzeit nicht vor.
Im Sog der Pandemie stieg vor allem während des ersten Lockdowns die Nachfrage nach rezeptfreien Arzneimitteln und Erkältungsmitteln. Stellen Sie eine erhöhte Arzneimittel-Kriminalität fest?
Münch: Die Fallzahlen im Bereich der Arzneimittelkriminalität haben sich bislang nicht gravierend verändert. Dennoch hat es natürlich Fälle gegeben, bei denen Kriminelle über illegale Online-Shops gefälschte Arzneimittel, minderwertige Medizinprodukte oder bedenkliche Vitaminpräparate verkauft haben. Daher gilt: Wer Medizinprodukte abseits seiner örtlichen Apotheke kauft, sollte bei der Wahl des Online-Shops unbedingt darauf achten, dass es sich um einen seriösen Anbieter handelt.
Das BKA hatte berichtet, dass organisierte Gruppen versuchten, überteuerte Schutzausstattung zu verkaufen. Dann gibt es Fake-Shops im Internet, die Atemschutzmasken anbieten. Versender sogenannter „Phishing-Mails” gaben sich als Mitarbeiter der Arbeitsagentur aus. Sind dies alles Anzeichen, dass sich mit Corona die Kriminalität noch mehr in die digitale Welt verlagert?
Münch: Die Pandemie verdeutlicht, was wir schon länger wissen: Cybercrime nimmt zu. 2019 hatten wir über 100.000 Fälle von Cybercrime zu verzeichnen und die Tendenz ist weiter steigend. Aus diesem Grund haben wir im vergangenen Jahr unsere Kräfte zur Bekämpfung der Cybercrime nochmals verstärkt und eine eigene Abteilung gegründet, die sich ganz auf diesen Kriminalitätsbereich konzentriert. Eine richtige Entscheidung, wie die aktuelle Lage zeigt: Cyberkriminelle haben schnell Wege gefunden, die mit der Ausbreitung des Virus einhergehenden Sorgen und Unsicherheiten in der Bevölkerung sowie die vermehrte Nutzung von digitalen Angeboten für ihre Zwecke zu missbrauchen. Dagegen geht das Bundeskriminalamt im Verbund mit nationalen und internationalen Partnerbehörden vor.
Das BKA ermittelt auch in Deliktsbereichen der Spionage. Der kürzlich verstorbene John le Carré schrieb einst vom „Spion, der aus der Kälte kam”. Woher kommen die Spione heute?
Münch: Woher die Spione kommen ist wohl weniger die Frage, sondern wie sie kommen. Auch wenn man sagen kann, dass dies vermehrt und häufig professionell über digitale Verbindungen geschieht, so bleibt doch die häufigste Schwachstelle der Mensch. „Social Engineering“ nennen wir das, wenn die Täter versuchen, sich über geschickte, personalisierte Anschreiben an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Firmen oder Behörden Zugänge zu den internen Netzen zu verschaffen. Was dann funktioniert, wenn jemand auf den maliziösen Link oder Anhang klickt.
Was sind die größten Aufgaben 2021 und darüber hinaus bei der Spionagebekämpfung?
Münch: Deutschland ist aufgrund seiner Wirtschaftskraft ein lohnendes Ziel für Aufklärungsaktivitäten vielfältigster Art – mit dem Ziel, Bereiche des Militärs, der Politik, der Wirtschaft und der Wissenschaft auszukundschaften. Cyberangriffe und Cyberspionage sind deshalb Themen, die uns im digitalen Zeitalter zunehmend beschäftigen. Auf die Problematik der wachsenden Anzahl an Cyberangriffen haben wir gemeinsam mit den anderen deutschen Sicherheitsbehörden reagiert und das Nationale Cyber-Abwehrzentrum aufgebaut, das stetig weiterentwickelt wird. Dort bündeln wir unsere Expertise im Bereich Cybersicherheit – denn nur gemeinsam können wir auf die dynamische Bedrohungslage reagieren. Ein weiterer wichtiger Punkt, der uns auch in diesem Jahr beschäftigen wird, ist das Vorgehen ausländischer Nachrichtendienste gegen Oppositionelle oder Dissidenten. Uns erreichen immer wieder Hinweise von Betroffenen, die sich von ausländischen Mächten bedroht fühlen. Wir gehen in Zusammenarbeit mit den Bundessicherheitsbehörden, den zuständigen Länderbehörden und internationalen Partnern jedem dieser Hinweise sorgsam nach. Das aktuell laufende Gerichtsverfahren vor dem Kammergericht in Berlin in Zusammenhang mit dem Fall des im Jahr 2019 getöteten georgischen Staatsangehörigen tschetschenischer Abstammung zeigt mahnend auf, dass auch weiterhin mit staatsterroristischen Aktivitäten ausländischer Staaten in Deutschland und Europa gerechnet werden muss.
Noch zu einem anderen Ermittlungsschwerpunkt. Zeitweise waren Grenzen geschlossen. Spüren Sie Auswirkungen beispielsweise bei der Zahl vom Autodiebstählen oder im Drogenhandel?
Münch: Kriminalität ist in vielen Fällen grenzüberschreitend. Doch die Täter müssen sich heute nicht mehr persönlich treffen: Sie nutzen, wie wir alle, moderne Kommunikationsmittel. Geschlossene Grenzen bedeuten also nicht zwangsweise oder nur kurzfristig, dass die Kriminalität zurückgeht. Was wir aber sehen ist, dass die Pandemie den Alltag verändert. Autos sind beispielsweise angesichts der verstärkten Nutzung des „Home-Office“ eher in sicheren Garagen geblieben. Das hat sich in der Statistik niedergeschlagen: Insbesondere im vergangenen März und April, also während des ersten Lockdowns, wurden weniger Kfz-Diebstähle begangen. Andererseits stellen wir im Bereich des Drogenhandels fest, dass sich der Handel noch mehr als zuvor ins so genannte Darknet verlagert. Auf diese Veränderung haben wir reagiert und unsere Ermittlungen verstärkt. Dabei gilt unser Augenmerk sowohl den Marktplatzbetreibern, weil sie die Infrastruktur für den Rauschgifthandel bereitstellen, als auch den Verkäufern, die diese Plattformen im Internet nutzen. Für die Konsumenten gilt natürlich, dass jeder Drogenkauf eine Straftat darstellt. Auch wenn es vermeintlich einfacher erscheint, die Droge online zu erwerben: So anonym, wie das Netz dem Laien erscheint, ist es nicht. Auch im digitalen Raum werden Spuren hinterlassen, die von der Polizei ausgewertet werden und die Aufklärung der Straftat ermöglichen – nicht nur bei Drogendelikten, sondern bei jeder Form von Kriminalität, bei der das Internet für Straftaten missbraucht wird.
Erwarten Sie sich beim Kampf gegen die OK mehr Rückendeckung aus der Politik? Gerade was die Clan-Kriminalität betrifft, Beispiel Berlin, erwarten viele Menschen entschiedenes Handeln.
Münch: Die notwendige Rückendeckung spüren wir in Bund und Ländern. Auf Initiative des Bundesinnenministers wurde im Jahr 2019 die Bund-Länder-Initiative zur Bekämpfung der Clankriminalität, kurz „BLICK“ gegründet, in der sich Bund und die vom Phänomen der Clankriminalität am meisten betroffenen Bundesländer zusammengeschlossen haben, um das Phänomen der Clankriminalität zu bekämpfen. Mit dieser Initiative wurde erstmals ein länderübergreifender Ansatz der Bekämpfung der Clankriminalität etabliert.
Innenminister Horst Seehofer fordert, Ermittlern leichter Zugang zu Kommunikationsdiensten wie WhatsApp zu verschaffen. Warum ist ein solcher Zugang sinnvoll?
Münch: Die Kommunikation von Tätern und Tatbeteiligten zu kennen, ist zur Aufklärung und Verhinderung von Fällen der schweren Kriminalität von großer Bedeutung. Deshalb hat der Gesetzgeber der Polizei - unter engen rechtlichen Rahmenbedingungen wie zum Beispiel dem Richtervorbehalt - entsprechenden gesetzliche Befugnisse zur Telekommunikationsüberwachung eingeräumt. Anbieter nahezu aller Kommunikationsdienste wie WhatsApp verschlüsseln aber mittlerweile ihre Inhalte, die so verborgen bleiben. Die Quellen-Telekommunikationsüberwachung, die vor oder nach der Verschlüsselung ansetzt, löst das Problem schon in Einzelfällen und unter Ausnutzung von Schwachstellen. Wenn Straftaten aber immer häufiger digital geplant, vorbereitet und begangen werden, müssen die Kompetenzen der Polizei vollständig auf die digitale Welt übertragen werden.
Das bedeutet?
Münch: Es darf in rechtlicher Hinsicht keinen Unterschied mehr machen, ob es sich bei der zu überwachenden Kommunikation um „klassische“ Telefonate oder um Kommunikation mittels internetbasierter Messenger-Dienste handelt. Daher setze ich mich dafür ein, die Rechtsgrundlagen in Deutschland technikneutral zu gestalten. Die Anbieter von elektronischen Kommunikationsdiensten sollten dazu verpflichtet werden, im richterlich angeordneten Einzelfall den Sicherheitsbehörden Kommunikationsinhalte vollständig und unverschlüsselt bereitzustellen. Diese Pflicht sollte auch für Anbieter gelten, die ihren Sitz im Ausland haben und ihre Dienste in Deutschland anbieten. Der Vorteil: wir müssten nicht mögliche Sicherheitslücken der Anbieter nutzen, um durch die „Hintertür“ zu überwachen, sondern setzen auf die Mitwirkung der Anbieter von Telekommunikationsdiensten. Das Bundeskriminalamt schlägt daher eine so genannte „Frontdoor“ für die Überwachung von Messengerdiensten vor, die genauso sicher gestaltet werden kann, wie wir es bereits seit vielen Jahren bei der klassischen Telekommunikationsüberwachung kennen. Genau wie das Bundesinnenministerium fordern wir angesichts der technischen Weiterentwicklung, dass die Sicherheitsbehörden ihre Befugnisse auch in der digitalen Welt anwenden und tatsächlich durchsetzen können. Dies ist für die Verbesserung der Bekämpfung von Organisierter Kriminalität, von Kindesmissbrauch, Terrorismus und Extremismus essentiell.
Sie sind schon 1978, als 17-Jähriger, in den Polizeidienst eingetreten. Inwieweit hat sich der Stellenwert der Polizei in unserer Gesellschaft seither verändert?
Münch: Die Polizei hatte sich schon damals zu einem wichtigen Grundpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft entwickelt. Sie wurde in der Folge bürgernäher, kommunikativer, transparenter und aktuell immer digitaler und vernetzter. Umfragen zeigen, dass sie es so geschafft hat, das hohe Vertrauen in der Bevölkerung zu halten. Ein Grund dafür ist auch, dass die Motivation der Menschen, die in den Polizeidienst kommen, heute noch die gleiche ist wie vor 40 Jahren: Sie wollen für andere eintreten und dafür sorgen, dass ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger nachts ruhig schlafen können. Um diese hohe Motivation der Beschäftigten zu erhalten, müssen wir ein moderner und attraktiver Arbeitgeber sein, Vielfalt fördern, unsere Werte – insbesondere unsere Verantwortung für die offene, freie und demokratische Gesellschaft – leben und pflegen und uns gleichzeitig stetig weiterentwickeln. Nur so können wir unserem BKA-Motto treu bleiben und weiterhin für die Gesellschaft „das Richtige machen.“