Bundeskriminalamt (BKA)

Interview: „Wir sehen mit Sorge, dass die Zahl der Bedrohungen und Anfeindungen zunimmt“

BKA-Präsident Holger Münch im Interview mit „Der Spiegel“

SPIEGEL: Die Erstürmung des Kapitols in Washington mit fünf Toten hat die Welt entsetzt. Wäre so etwas auch in Deutschland möglich?

Holger Münch: Die Geschehnisse sind für mich so nicht unmittelbar auf Deutschland übertragbar. Zum einen, weil es in den USA um angebliche Wahlmanipulation ging, während sich der Protest bei uns überwiegend gegen die Corona-bedingten Einschränkungen richtet. Zum anderen wurden die Demonstranten in Washington offenkundig von politischen Verantwortungsträgern an der Spitze der Regierung in die Irre geleitet und aufgewiegelt.

SPIEGEL: Im Sommer schien nur die Entschlossenheit weniger Polizisten wütende Protestler daran zu hindern, in das deutsche Parlament einzudringen. Haben die Sicherheitsbehörden die Militanz der Corona-Leugner unterschätzt?

Münch: Während der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen wurde wiederholt versucht, symbolträchtige Bilder zu schaffen. Wir beobachten die Entwicklung der Szene daher sehr genau. Was häufig mit Mobilisierung und Radikalisierung im Netz beginnt, zeigt Auswirkungen auch in der analogen Welt. Dennoch sehen wir derzeit nicht, dass Proteste hierzulande eine ähnliche Brisanz und Militanz erreichen könnten, wie sie sich zuletzt in den USA gezeigt haben. Die Polizei hat aber aus der Besetzung der Reichstagstreppe gelernt. Symbolträchtige Orte werden bei Demonstrationen stärker geschützt als vor einigen Monaten.

SPIEGEL: In den USA hat sich QAnon zu einer hochgefährlichen Bewegung entwickelt. Auch in Deutschland greift diese wirre Theorie immer stärker um sich. Geht von den Verschwörungsideologen eine Terrorgefahr aus?

Münch: Eine solche Gefahr stellen wir mit Blick auf QAnon in Deutschland bislang nicht fest. Allerdings tragen prominente Personen mit hoher Reichweite in den sozialen Medien auch hierzulande dazu bei, diese kruden Botschaften weiter zu verbreiten. Die Dynamik ist groß und grundsätzlich können Verschwörungstheorien eine gefährliche Wirkung haben. Wir müssen diese Szene deshalb im Blick behalten.

SPIEGEL: Bemerken Sie eine erhöhte Gefährdung von Politikern und Wissenschaftlern durch Corona-Leugner?

Münch: Wir sehen mit Sorge, dass die Zahl der Bedrohungen und Anfeindungen stetig zunimmt. Das betrifft Politiker, aber auch andere Personen, wie etwa Virologen, die während der Pandemie in den Medien besonders präsent sind. Immer häufiger registrieren wir Angriffe auf Journalisten. Die Emotionalisierung ist groß. Wir haben unsere Schutzkonzepte deswegen in enger Abstimmung mit den Ländern angepasst, sie werden flexibler.

SPIEGEL: Bekommen Wissenschaftler nun Bodyguards?

Münch: Das liegt in der Entscheidung der zuständigen Landespolizeien. Für unsere Schutzpersonen, Abgeordnete etwa und Mitglieder der Bundesregierung, beurteilen wir ständig deren individuelle Gefährdungslage, auch im Hinblick auf konkrete Situationen und Termine. Dabei werden natürlich auch emotionalisierte Debatten berücksichtigt, die öffentlich in den sozialen Medien geführt werden.

SPIEGEL: Eine Pandemie bedeutet Stress, Unsicherheit, Angst. Macht das die Menschen anfälliger für Extremismus?

Münch: Das ist eine schwierige Frage, die wir noch nicht abschließend beantworten können. Demonstranten bilden eine heterogene Mischszene mit unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen: Unter den Querdenkern sind Verschwörungstheoretiker, Esoteriker, aber auch Reichsbürger und Rechtsextremisten. Es gibt also eine Nähe zu Radikalen, aber bislang keine Unterwanderung der kompletten Protestbewegung. Wichtig wird weiterhin sein, dass die Politik ihre Maßnahmen gut erklärt. Auch die Unterstützung für Menschen, die wegen Corona wirtschaftlich in Not geraten sind, stabilisiert die Gesellschaft. Zugleich zeichnet sich ab, dass die Zahl der politisch motivierten Straftaten im vergangenen Jahr deutlich gestiegen ist – darunter auch die der fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Delikte. Das alarmiert uns sehr.

SPIEGEL: Nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hat die Politik versprochen, den Hass im Internet einzudämmen. Wenn das entsprechende Gesetz demnächst in Kraft tritt, soll eine neue Zentralstelle des BKA diese Aufgabe übernehmen. Ist das Vorhaben nicht zum Scheitern verurteilt?

Münch: Das sehe ich absolut nicht. Wir sind auf einem guten Weg und haben für uns wichtige Vorarbeiten geleistet. Wenn wir der Verbreitung von Hass und Hetze im Netz entgegentreten wollen, müssen wir die rote Linie zwischen Meinungsfreiheit und Straftat eindeutiger ziehen als bislang. Es darf nicht sein, dass Hass und Hetze im Netz keine Reaktion des Staats nach sich ziehen und Betroffene allein gelassen werden. Wir müssen da Flagge zeigen. Deshalb haben wir den Vorschlag einer Zentralstelle gemacht.

SPIEGEL: Twitter, YouTube, Facebook, Instagram und TikTok werden Ihnen Hunderttausende problematische Posts ihrer Nutzer schicken, die Sie dann bewerten und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgen sollen. Wie kann das gelingen?

Münch: Wir haben gemeinsam mit den Ländern und der Justiz ein abgestimmtes Verfahren entwickelt, mit dem wir arbeitsteilig jede einzelne Meldung prüfen wollen. Handelt es sich um eine zulässige Meinungsäußerung oder haben wir es hier mit einer Straftat zu tun? Ist Letzteres der Fall, werden wir unsere rechtlichen Möglichkeiten ausschöpfen, um festzustellen, wer hinter dem Eintrag steht und den Fall an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft abgeben. Für das BKA kann ich sagen: Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen.

SPIEGEL: Wie stellen Sie sicher, dass Menschen sich auch in Zukunft frei im Netz äußern können, ohne dass ihnen gleich das BKA im Nacken sitzt?

Münch: Schon heute müssen Anbieter sozialer Netzwerke problematische Inhalte löschen, wenn sie von den Nutzern darauf hingewiesen werden. Und nur mit diesen Beiträgen werden wir uns als BKA künftig befassen. Wenn wir dann erkennen, dass darunter legale Inhalte waren, werden wir die sozialen Netzwerke darüber informieren. So können die Firmen ihre Filter optimieren. Natürlich stehen wir auch im engen Austausch mit der Justiz, damit klar zwischen Straftaten und Meinungsäußerungen unterschieden wird.

SPIEGEL: Die erste Einschätzung der gemeldeten Inhalte kommt jedoch von den sozialen Netzwerken. Können solche Firmen wirklich Hilfsermittler des BKA sein?

Münch: Wir werden in der Praxis sehen, welche Qualität die Meldungen der Anbieter haben. Die Firmen werden durch den Austausch mit uns lernen, was für das BKA und damit für die Strafverfolgung relevant ist.

SPIEGEL: Die Unternehmen wehren sich gegen das Gesetz, das sie zur Kooperation mit dem BKA zwingen soll. Sie sehen die Verfassung verletzt. Stimmt es, dass sich Facebook und andere bislang weigern, mit Ihnen einen Probebetrieb zu starten?

Münch: Richtig ist, dass alle großen Firmen abwarten wollen, bis das Gesetz in Kraft getreten ist, ehe sie mit uns in konkrete Absprachen gehen. Eine Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden ist für die Unternehmen nicht leicht. Es geht für sie immerhin um Daten ihrer Kunden. Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass sie erst einmal zögern. Sobald das Gesetz in Kraft tritt, erwarte ich aber eine Kooperation. Ein erfolgreiches Vorgehen gegen Hass und Hetze im Netz bedingt ein gutes Zusammenwirken aller.

SPIEGEL: Haben Sie die Hoffnung, dass das Internet ein besserer Ort wird, wenn das BKA dort Streife geht?

Münch: Ich erhoffe mir weniger hass­erfüllte Auswüchse auf den großen Plattformen. Dabei könnte helfen, dass betroffene Nutzerinnen und Nutzer benachrichtigt werden, wenn ihr Kommentar an die Polizei übermittelt wurde. So wird für deren Verfasser auch im Netz sichtbar, dass es keine rechtsfreien Räume gibt.

SPIEGEL: Was ist aber gewonnen, wenn solche Hetzer dann einfach von Facebook zu Telegram wechseln?

Münch: Es gibt immer Verdrängungseffekte. Wenn Hetzer von den großen Plattformen in geschlossene Chatgruppen abwandern, führt das auch dazu, dass öffentliche Anfeindungen auf den großen Plattformen abnehmen. Das ist unser klares Ziel. Im nächsten Schritt müssen wir dann schauen, ob und wie man andere Anbieter im Netz verpflichten kann, Hass einzudämmen.

SPIEGEL: Der versuchte Anschlag auf die Synagoge in Halle hat gezeigt, wie sich Gewalttäter aus dem rechten Spektrum inzwischen radikalisieren. Der Attentäter war nicht in klassische Neonazi-Gruppen eingebunden. Ein junger, unauffälliger Mann, der sich unbemerkt im Netz radikalisierte, bis er schließlich mordete. Wie wollen sie solche Täter besser aufspüren?

Münch: Wir haben inzwischen rund 70 Gefährder und etwa 160 sogenannte relevante Personen aus dem rechten Spektrum im Blick. Um mögliche Terroristen und Extremisten zu erkennen, nutzen wir erprobte Techniken aus der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Unser Analyseinstrument RADAR wird dafür weiterentwickelt. Im kommenden Jahr werden wir es dann zur Bewertung des Gefahrenpotenzials von rechtsextremistischen Einzelpersonen einsetzen können. Schon jetzt tauschen wir uns aber zu bestimmten Personen ständig mit den Experten in den Ländern aus, die ihre lokalen Szenen am besten kennen. Trotzdem sehen wir nicht alles. Viele überführte Täterinnen und Täter, die etwa Volksverhetzungen begangen haben, waren der Polizei vorher nicht bekannt. Wir stocken unsere Kapazitäten in diesem Bereich deshalb deutlich auf, um bislang unbekannte Personen, Verbindungen oder gar Netzwerke besser zu erkennen und zu bekämpfen. Dieses Ziel verfolgen wir auch in einer neuen Fachgruppe Internet. Wahr ist aber auch: Es wird sehr schwierig sein, jeden potenziellen Attentäter im Vorhinein zu erkennen.

SPIEGEL: Immer größere Bedeutung für die Radikalisierung junger Rechtsextremisten haben Internetforen wie etwa 8kun. Versteht Ihre Behörde diese Subkultur inzwischen gut genug?

Münch: Es wäre anmaßend zu behaupten, dass wir schon am Ziel sind. Das sind sehr dynamische Szenen. Wir erhöhen unsere Lerngeschwindigkeit und stellen zum Beispiel Analystinnen und Analysten mit speziellen IT-Kenntnissen ein, die dann nicht erst drei Jahre durch die Polizeiausbildung gehen müssen, sondern schnell eingesetzt werden können. Zugespitzt gesagt: Auch ein Ein Gaming-Experte soll sich eine Karriere im BKA vorstellen können. Wir investieren in Spezialisten, die solche Phänomene schnell und systematisch erfassen können.

SPIEGEL: Hätten Sie gerne einen Generalschlüssel für die kryptierten Telefonate und Chats von WhatsApp und anderen Messengern?

Münch: Den Sicherheitsbehörden muss auch im digitalen Zeitalter die ganze Bandbreite der Strafverfolgungsinstrumente zur Verfügung stehen. Sie müssen im Einzelfall, nach einem Beschluss eines Richters, die Kommunikation eines Straftäters überwachen können – auf allen Kanälen. Das ist derzeit nur unter erheblichem technischen Aufwand möglich, indem wir in Einzelfällen entsprechende Software auf Endgeräte aufspielen. Das allein ist keine zukunftsfähige Strategie.

SPIEGEL: Und deshalb wollen Sie nun die Verschlüsselung vollständig knacken und die Messenger-Dienste für alle Nutzer unsicherer machen?

Münch: Nein, wir wollen keine Hintertüren ausnutzen. Wir wollen einen Zugang durch die Vordertür. Anbieter etwa von Messengerdiensten sollen ihre Systeme so gestalten, dass sie im Fall einer richterlich genehmigten Überwachung unverschlüsselte Daten an die Ermittler ausleiten können. Wir haben das technisch analysiert und glauben, dass das geht, ohne die Verschlüsselung insgesamt aufzubrechen.

SPIEGEL: Wenn Sie auf das Krisenjahr 2020 zurückblicken und auf die Pandemie – wie hat Corona die Kriminalität in Deutschland verändert?

Münch: In verschiedenen Phänomenbereichen verzeichnen wir einen Rückgang der polizeilich erfassten Fallzahlen für 2020. Besonders während der Lockdown-Monate sind Tatgelegenheiten für Kriminelle entfallen. Wenn die Menschen zu Hause bleiben, ist etwa ein Wohnungseinbruch riskanter. Und wenn es keine Menschenansammlungen gibt, haben Taschendiebe keine Chance.

SPIEGEL: Das klingt nach einer guten Nachricht, so etwas ist derzeit selten.

Münch: Nur zum Teil. Kriminelle sind leider anpassungsfähig und verlagern ihre Taten dahin, wo die Menschen während des Lockdowns noch präsenter sind, nämlich ins Netz. Sie haben zum Beispiel falsche Internetseiten aufgebaut, auf denen die Menschen angeblich Corona-Soforthilfen beantragen können. In Wirklichkeit werden dort Daten abgegriffen, um damit Betrügereien im Netz zu begehen. Generell hat die Cyber-Kriminalität im vergangenen Jahr erheblich zugenommen. Wir verzeichnen mittlerweile zwischen acht und 17 Millionen neue Malware-Varianten pro Monat – das sind fast unvorstellbare Dimensionen.

SPIEGEL: Wie gelingt Verbrecherjagd in Pandemiezeiten? Immerhin arbeitet ein beträchtlicher Teil der Polizei aktuell von zu Hause aus.

Münch: Unsere aktuelle Homeoffice-Quote liegt bei gut 50 Prozent. Das ist für eine Sicherheitsbehörde sehr hoch. Wir haben die Zahl der gesicherten Laptops, die unsere Mitarbeiter zu Hause einsetzen können, vervierfacht. Aber natürlich geht das nicht in allen Bereichen. Unsere Personenschützer etwa können ihre Arbeit nicht im Home Office machen. Und Vernehmungen können wir natürlich nicht im eigenen Wohnzimmer durchführen.

SPIEGEL: Kann ein BKA-Präsident denn Homeoffice machen?

Münch: Ja, das mache ich auch. Zwischen ein und drei Tage pro Woche arbeite ich aktuell von zu Hause aus. Wir haben die Marschroute, persönliche Kontakte so weit wie möglich zu reduzieren. Das gilt auch für mich.

SPIEGEL: Und wenn die Videokonferenz mal wieder streikt, ärgern Sie sich wie Millionen Arbeitnehmer in Deutschland?

Münch: Es läuft nicht immer alles perfekt. Aber es kann niemand erwarten, dass wir jetzt in Rekordzeit aufholen, was wir in den vergangenen zehn Jahren bei der Digitalisierung noch nicht gemacht haben. Am Ende werden wir aus dieser Krise jedoch deutlich moderner herauskommen, als wir hineingegangen sind.

SPIEGEL: Herr Münch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.