Bundeskriminalamt (BKA)

Interview: „Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht von uns, dass wir zu hundert Prozent auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen“

BKA-Präsident Holger Münch im Interview mit der „Süddeutsche Zeitung“

Herr Münch, von welcher politischen Szene geht derzeit die größte Gefahr aus?

Ich teile die Auffassung der jetzigen Bundesinnenministerin und ihres Vorgängers: von rechts. Das Potential, die Grundfesten unserer freien, offenen und demokratischen Gesellschaft zu erschüttern, sehen wir hier in besonderer Weise.

Woran liegt das?

Nehmen Sie die Anstiege bei den Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger, also beispielsweise gegen Bürgermeister oder Stadträte. Hier haben wir in den vergangenen vier Jahren eine Zunahme um mehr als 200 Prozent feststellen müssen. Den größten Anteil davon machen rechtsmotivierte Taten aus. Wenn sich Menschen in der Folge nicht mehr trauen, ein Mandat auszuüben oder sich anderweitig gesellschaftlich zu engagieren, dann kann das demokratiegefährdende Ausmaße annehmen.

Ihre polizeiliche Statistik sagt: Die meisten politisch motivierten Straftaten kommen von rechts. Fast genauso viele aber sind „nicht zuzuordnen“. Wieso?

Das ist eine Frage der Definitionen. Seit vielen Jahren kommt mehr als die Hälfte der politisch motivierten Straftaten von rechts. Während der Corona-Pandemie sind nun sehr viele weitere Delikte hinzugekommen, die wir demokratiefeindlichen Bestrebungen, oft aber nicht einem herkömmlichen, definierten politischen Spektrum zuordnen können.

Sind denn Verschwörungsideologen, die Brandanschläge auf das Robert-Koch-Institut verüben oder versuchen, den Reichstag zu erstürmen, nicht „rechts“?

Wir arbeiten daran, den Definitionskatalog zu erweitern, um diese Delikte eindeutiger zu erfassen. Schon jetzt sehen wir sehr genau hin, wehren Gefahren wo immer möglich ab und verfolgen Straftaten mit allen rechtsstaatlichen Mitteln. Im Spektrum der „nicht zuzuordnenden“ politisch motivierten Kriminalität haben wir derzeit eine Person als Gefährder eingestuft. Sechs weitere führen wir als sogenannte Relevante Personen, jeweils mit Bezügen in die Reichsbürger- und/oder Querdenkerszene.

Was bedeutet das?

Das bedeutet, dass wir annehmen müssen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen beziehungsweise unterstützen werden.

Jede Woche gibt es neue Berichte über Attacken auf Supermarktverkäuferinnen, Bahnpersonal, Impfärzte - begangen von Leuten, die sich ein Recht zum „Widerstand“ gegen die Corona-Maßnahmen zusprechen. Sind diese Täter in der Regel polizeibekannt?

Nein. Nur etwa die Hälfte der Täter kannten wir schon vorher, und weniger als ein Fünftel von ihnen haben schon in der Vergangenheit Taten begangen, mit denen sie als politisch motiviert aufgefallen sind. Dieses Phänomen haben wir in ähnlicher Weise schon früher bei Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte erlebt.

Was schließen Sie daraus?

Dass es nicht ausreicht, wenn wir die bekannten Angehörigen einer radikalen Szene im Blick behalten. Wir müssen zusätzlich auch diejenigen frühzeitiger identifizieren, die sich – unbemerkt von Polizei und Umfeld – schon heute im Verborgenen radikalisieren, um morgen scheinbar wie aus dem Nichts heraus Straftaten zu begehen.

Haben Sie deshalb kürzlich eine Taskforce ins Leben gerufen, um das Geschehen im Messengerdienst Telegram zu beobachten?

Wenn Menschen in digitalen Echokammern unterwegs sind, in denen hemmungslos gehetzt wird und in denen Hass und Gewalt verharmlost, legitimiert oder gar verherrlicht werden, dann ist das ein gefährlicher Nährboden für eine Radikalisierung, die bis hin zur Begehung von Straftaten führen kann. Das gilt insbesondere dann, wenn den Menschen in diesen Echokammern das Gefühl vermittelt wird, mit ihrer Haltung nicht allein, sondern Teil einer Mehrheit zu sein. Solche Aufschaukelungseffekte müssen wir durchbrechen.

Viele Menschen, die dort ihre Wut über die Politik zum Ausdruck bringen, tun das, ohne Gesetze zu verletzen.

Die Polizei bekämpft nicht das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, sondern strafrechtlich relevantes Verhalten. Morddrohungen aber sind keine legitimen Meinungsäußerungen, auch nicht im Netz.

Werden die Täter im rechten Spektrum immer jünger?

Wir sehen eher den Trend, dass sie älter werden. Der typische Täter, den wir momentan bei Hass und Hetze erkennen, ist männlich und über 30 Jahre alt. Vielleicht spielt dabei manchmal auch eine Rolle, dass sich teilweise Lebensträume nicht so erfüllt haben wie erhofft.

Warum stuft das BKA trotz dieser Dynamik nur so wenige Rechtsextreme als „Gefährder“ ein?

Ihre Zahl hat sich seit 2011 immerhin fast verzwanzigfacht und seit 2019 mehr als verdoppelt. Aktuell unterliegen mit 77 Gefährdern und 188 Relevanten Personen bundesweit mehr als 260 Personen des rechten Spektrums einer standardisierten polizeilichen Überwachung. Das ist eine gute Entwicklung.

Auf viele Beobachter wirken diese Zahlen dennoch viel zu tief gegriffen. Der Verfassungsschutz geht immerhin von mehr als 13.000 gewaltorientierten Rechtsextremen in Deutschland aus. Warum blicken Sie nur auf so wenige?

Das liegt zum einen an der schon angesprochenen Besonderheit, dass viele der rechtsextremistischen Täter der letzten Jahre zuvor polizeilich nicht oder nicht einschlägig aufgefallen waren. Eine andere Ursache ist, dass wir im vergangenen Jahrzehnt mit einem extrem hohen Anschlagsrisiko im islamistischen Bereich konfrontiert waren. Das hat viele Kräfte gebunden. Heute ist die Situation eine andere.

Je genauer das BKA hinsieht, desto mehr rechte Gefährder entdeckt es?

Unsere Methodik ist besser geworden. Ein Beispiel: Wir haben in den vergangenen zwei Jahren ein System entwickelt, mit dem wir die Gefährlichkeit von Rechtsextremisten wissenschaftlich abgestützt bewerten, sie in verschiedene Risikostufen einstufen. Moderat oder hoch, oder wenn Sie so wollen: gelb oder rot. Das System nennt sich Radar-rechts, dafür haben wir Lebensläufe von Rechtsextremen empirisch ausgewertet, um Erfahrungswerte zu gewinnen. Das werden wir schon bald flächendeckend einsetzen können.

Was geschieht, wenn ein Neonazi oder Reichsbürger von Ihnen als „rot“ eingestuft wird? Präventiv einsperren können Sie die Leute nicht.

Wir können uns diese Personen dann noch gezielter ansehen. Unser Ziel ist es, das Risiko zu verringern: Durch repressive, polizeiliche Maßnahmen, in manchen Fällen und bei entsprechenden günstigen Voraussetzungen aber durchaus auch einmal mit unterstützenden, sozialen Maßnahmen.

Erstaunlich viele Rechtsextreme, die mit Haftbefehl gesucht werden, befinden sich derzeit auf freiem Fuß. Das Bundesinnenministerium meldete im Dezember: Derzeit seien 788 Haftbefehle gegen 596 Rechtsextremisten offen. Die Zahl ist 2021 erheblich gestiegen. Wie kann das sein?

Da müssen wir differenzieren. Die statistische Erhebung der offenen Haftbefehle erfolgt im Halbjahresrhythmus und ist jedes Mal nur eine Momentaufnahme. Ständig werden neue Haftbefehle vollstreckt und aufgrund verschiedenster Delikte auch wieder neue Haftbefehle erlassen. Dabei geht es oft gar nicht in erster Linie um politisch motivierte Straftaten, sondern um Allgemeinkriminalität, etwa Diebstahl oder Verkehrsdelikte. Im vergangenen Jahr gab es nur einen einzigen offenen Haftbefehl wegen einer rechtsterroristischen Straftat, der später aufgehoben wurde. Hinzu kamen 26 rechtsmotivierte Gewaltdelikte und 125 rechtsmotivierte Straftaten ohne Gewalt, also zum Beispiel Volksverhetzung. Den übrigen circa 80 Prozent der offenen Haftbefehle lagen unpolitische Delikte zugrunde.

Wäre es nicht trotzdem wichtig, dass Rechtsextreme, die den demokratischen Staat verachten, diesen Staat als konsequent kennenlernen?

Absolut. Seit Beginn der Pandemie gibt es allerdings einen gewissen „Corona-Effekt“, weil manche Bundesländer die Vollstreckung von Haftbefehlen, die aufgrund von minderschweren Vergehen aus dem nicht-politischen Bereich erlassen wurden, zurückgestellt haben.

Die Entwaffnung der rechtsextremen Szene ist oft angekündigt worden. Die Realität aber sieht anders aus. Neuerdings besitzen laut Verfassungsschutz mehr als 1500 Rechtsextreme legal Schusswaffen. Das bedeutet einen Anstieg um knapp 30 Prozent zum Vorjahr. Wie kann das sein?

Diese Zahl ist zu hoch, keine Frage. Waffen gehören nicht in die Hände von Extremisten. Seit 2016 ist es in mindestens 880 Fällen gelungen, Rechtsextremen die Waffenerlaubnis zu entziehen – immerhin. Aber wir sind uns alle einig, dass das noch nicht ausreicht. Im vergangenen Jahr ist deshalb das Waffenrecht bundesweit verschärft worden.

Wäre es nicht sinnvoller, man würde das Thema Waffen nicht länger Hunderten Landratsämtern quer durch die Republik überlassen?

Am Ende müssen wir das Ergebnis beurteilen, 1500 bewaffnete Rechtsextreme können uns natürlich nicht zufriedenstellen. Wir werden sehen müssen, ob sich die Nachschärfung des Waffenrechts als ausreichend erweist oder ob weitere Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Der rassistische Attentäter von Hanau, der am 19. Februar 2020 neun Menschen erschoss, verfügte legal über drei Schusswaffen. Zwei setzte er bei dem Anschlag ein. Davor hatte er eine Zeitlang in München gelebt – ohne dass die Münchner Behörden überhaupt Kenntnis davon bekamen, dass er Waffenbesitzer war.

Dass solche Informationen zwischen Behörden nicht so gut fließen, wie sie fließen sollten, sehen wir leider nicht nur innerhalb Deutschlands, sondern auch in Europa. Der Amoktäter beispielsweise, der am 24. Januar 2022 in der Universität von Heidelberg auf seine Mitstudierenden schoss, hatte als deutscher Staatsangehöriger zuvor in Österreich legal eine Waffe gekauft und illegal nach Deutschland verbracht. Die deutschen Behörden haben von diesem Waffenerwerb jedoch keine Kenntnis erlangt.

Nach dem Anschlag von Hanau ist viel über das Vertrauen zwischen Migranten und der Polizei gesprochen worden. Welche Bedeutung haben da Polizei-Chatgruppen mit rassistischen Inhalten?

Das müssen wir sehr, sehr ernst nehmen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht von uns, dass wir zu hundert Prozent auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen und für ihre Werte eintreten. Bei mehr als 300.000 Beschäftigten der Polizei in Deutschland werden wir solche Vorfälle wahrscheinlich nie vollkommen ausschließen können. Umso wichtiger ist es deshalb, dass wir in jedem einzelnen Fall mit aller Konsequenz reagieren.

Was geschieht Ihrem Eindruck nach häufiger: dass Menschen, die zur Polizei gehen, schon vorher weit rechts stehen und man dies bei der Rekrutierung übersieht - oder dass sich junge Menschen während ihres Dienstes zu Rechtsextremen wandeln?

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die wir dazu haben, zeigen in der Frage bislang kein eindeutiges Ergebnis. Allerdings reicht die Studienlage insgesamt noch nicht aus, weshalb ich es sehr begrüße, dass zuletzt verschiedene Bundesländer entsprechende Vorhaben auf den Weg gebracht haben. Wir führen im BKA gerade selbst eine Langzeitstudie über sieben Jahre mit Berufseinsteigern durch, um herauszufinden, ob und wie sich ihre Werte und Einstellungen von der Einstellung über die Ausbildung und die ersten Berufsjahre hinweg verändern.

Wie viele Rechtsextremismus-Vorfälle gab es in jüngerer Zeit beim BKA?

Wir sind seit 2019 neun Verdachtsfällen nachgegangen, mit der Folge, dass drei Mitarbeitende nicht übernommen oder entlassen wurden. Ein Disziplinarverfahren haben wir ohne Entlassung abgeschlossen und in einem weiteren Verfahren Disziplinarmaßnahmen ergriffen. Vier Fälle sind noch anhängig, bei zwei davon laufen zudem strafrechtliche Ermittlungsverfahren, etwa wegen des mutmaßlichen Zeigens eines Hitlergrußes.

Oft dauert es Jahre, bis ein Polizist wirklich seinen Job verliert. Welchen Effekt haben solche Verfahren dann noch?

Als Vorgesetzte können wir nach dem Disziplinarrecht eigenständig einen Verweis aussprechen oder eine Geldbuße oder Gehaltskürzung verhängen. Aber wenn wir jemanden entlassen wollen, müssen wir zum Gericht gehen und eine Disziplinarklage anstrengen – und das dauert oft Jahre. Das ist unbefriedigend.

Was tun?

Ich könnte mir eine Änderung der aktuellen Regelungen für die Beamtinnen und Beamten des Bundes nach dem Vorbild von Baden-Württemberg gut vorstellen. Dort kann eine Entlassung aus dem Beamtenverhältnis ohne Klage erfolgen. Wenn ein Polizist oder eine Polizistin ihren Eid, für das Grundgesetz und für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, bricht, müssen wir rasch reagieren können.