- Datum:19. April 2022
- Interview mit: BKA-Präsident Holger Münch
- Interviewer: Frank Jansen
Herr Münch, seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine häufen sich Übergriffe auf Russen wie auch auf Ukrainer. Wie gefährlich ist das?
Wir registrieren pro Woche aktuell rund 200 Straftaten mehrheitlich gegen russischstämmige aber auch gegen ukrainischstämmige Mitglieder unserer Gesellschaft. Es handelt sich vorrangig um Delikte wie Bedrohungen, Beleidigungen oder Sachbeschädigungen. Die Zahlen waren in den vergangenen Wochen stabil bis leicht rückläufig. Die weitere Entwicklung ist schwer prognostizierter und stark abhängig vom weiteren Verlauf des Krieges. Deswegen bleiben wir am Ball: Das BKA erhebt, erfasst und bewertet hierzu sämtliche relevante Informationen aus den Ländern und den Bundesbehörden und führt diese zu einer Lagebewertung zusammen.
Welche Dimension haben Hass und Hetze gegen Russen und gegen Ukrainer in den sozialen Medien? Was registriert die „Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI)“, die das BKA im Februar und damit zufällig kurz vor Beginn des Krieges gestartet hat?
In Bezug auf russisch- oder ukrainischsstämmige Opfer hat der Polizeiliche Staatsschutz des BKA bislang nur vereinzelt Hasspostings festgestellt. Auch in der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet (ZMI) sind bislang nur wenige Meldungen mit Bezug zum Krieg in der Ukraine eingegangen.
Allerdings sind die Eingänge in der ZMI aktuell kein geeigneter Indikator. Die nach dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz verpflichteten Plattform-Anbieter übermitteln momentan wegen ihrer andauernden Klageverfahren keine Verdachtsmeldungen strafbarer Inhalte an das BKA.
Wie kommen Sie an die Meldungen heran?
Wir haben deshalb stufenweise die Zusammenführung von dezentralen Meldestrukturen, die in den Ländern zur Bekämpfung von Hass und Hetze im Internet bereits bestehen, beim BKA vorgezogen, um so die Effektivität in der Bekämpfung von Hass und Hetze im Netz zu steigern. Die Zahl der bearbeiteten Meldungen liegt aktuell monatlich im mittleren dreistelligen Bereich. Das reicht natürlich noch nicht aus, um dem Problem insgesamt angemessen zu begegnen. Ein Europäischer Rechtsakt, der Digital Service Act, ist in Vorbereitung, der dann europaweit entsprechende Meldeverpflichtungen regeln wird. Hierauf bereiten wir uns gemeinsam mit den Polizeien der Länder und der Justiz vor und nutzen die Zeit, um die Arbeitsabläufe weiter zu optimieren.
Vor zwei Wochen hat das BKA im Auftrag des Generalbundesanwalts ein Netzwerk von Neonazis um die Gruppierung „Atomwaffendivision“, die sich an dem amerikanischen Massenmörder Charles Manson orientiert, mit Durchsuchungen überzogen. Wie groß war die Gefahr, dass sich eine rechtsextreme Terrorgruppe formiert?
Die „Atomwaffen-Division“ wurde ursprünglich in den USA gegründet. Sie folgt einer Ideologie, durch Terrorstraftaten einen bürgerkriegsähnlichen Zustand herbeizuführen und diesen zu nutzen, um einen Systemumsturz herbeizuführen. Mitglieder der Gruppierung in den USA werden mit mehreren Tötungsdelikten in Verbindung gebracht. Gegen Mitglieder des deutschen Ablegers, der die Ideologie der „Atomwaffen-Division“ in Deutschland umsetzen wollte, führen wir im Auftrag des Generalbundesanwaltes ein Ermittlungsverfahren wegen der Gründung und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Aktuell erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage gegen einen der Beschuldigten, dem sie vorwirft, Anschläge im Sinne dieser Ideologie geplant zu haben. Die Gefahr war also sehr konkret. Alles Weitere werden die andauernden Ermittlungen zeigen.
Die Terrormiliz IS schlägt wieder zu. In Israel werden Attentate verübt, in Mali haben Kämpfer des IS im März hunderte Dorfbewohner getötet. Was braut sich da für Europa und Deutschland zusammen?
Die genannten Attentate haben aus unserer Sicht eine regionale Bedeutung mit Auswirkungen auf die Sicherheitslage in den jeweiligen Ländern. Eine unmittelbare Strahlkraft bis nach Europa oder gar Deutschland sehen wir aktuell nicht. Unabhängig davon haben wir auch in Europa eine seit Jahren andauernde Bedrohungslage. In Deutschland zählen wir aktuell noch immer 543 Gefährder und 519 potenzielle Unterstützer, so gennannte Relevante Personen, im islamistischen Spektrum. Wegen der andauernden Gefahr, dass Sympathisanten und Anhänger einer islamistischen Gruppierung Taten in Deutschland planen und durchführen, dürfen wir mit unseren Maßnahmen auch hier nicht nachlassen. Attentate wie beispielsweise in Israel könnten hierbei tatmotivierend sein.
Ebenfalls vergangene Woche haben BKA und Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt im Darknet das Portal „Hydra Market“ abgeschaltet. Welchen Schaden hatte Hydra Market angerichtet?
Bei „Hydra Market“ handelte es sich um den umsatzstärksten illegalen Marktplatz im Darknet. Allein im Jahr 2020 dürften es über 1,2 Milliarden Euro gewesen sein. Gehandelt wurde mit illegalen Betäubungsmitteln, zudem wurden über die Plattform ausgespähte Daten, gefälschte Dokumente und kriminelle digitale Dienstleistungen verkauft. Nach unseren Erkenntnissen waren auf dem Marktplatz über 19.000 Konten von Verkäufern und rund 17 Millionen Kundenkonten registriert. Zum Vergleich: Der zweitgrößte Marktplatz Wall Street Market, den wir bereits im Jahr 2019 abgeschaltet haben, hatte 5400 Verkäufer und 1,1 Millionen Kundenkonten.
Daran können Sie erkennen, welche Dimension dieser illegale Marktplatz hatte und wie wichtig dieser Ermittlungserfolg ist. Im Zeitalter digital vernetzter Kriminalität ermöglichen solche Plattformen tausenden Kriminellen weltweit, verbotene Waren und Dienstleistungen anzubieten. Kriminalität wird per Mausklick ermöglicht. Dies einzudämmen ist ein Ziel, für das wir mit vielen Strafverfolgungsbehörden weltweit zusammenarbeiten.
Im vergangenen Jahr hat die Verbreitung von Kinderpornografie stark zugenommen. In der kürzlich von Ihnen und Bundesinnenministerin Nancy Faeser vorgestellten Polizeilichen Kriminalstatistik wird eine Verdopplung der Straftaten auf mehr als 39.000 gemeldet. Wie konnte das passieren? Welche Rolle spielt die Pandemie?
Die Pandemie ist kein relevanter Faktor dieser Entwicklung. Hauptursache für den starken Anstieg ist die stark angestiegene Zahl von Verdachtsmeldungen, die wir im Bundeskriminalamt von der halbstaatlichen US-amerikanischen Stelle „National Center for Missing an Exploited Children (NCMEC)“ erhalten. Wir prüfen diese auf Strafbarkeit nach deutschem Recht, stellen den möglichen Verursacher fest und leiten den Sachverhalt dann an die zuständigen Bundesländer weiter.
Wir hellen so das Dunkelfeld auf, sehen also mehr und mehr das wahre Ausmaß dieser Straftaten. Wir bekommen auf diese Weise auch immer wieder Hinweise auf sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Unser Ziel ist es, solche Taten zu verhindern oder so schnell wie möglich zu beenden.
Deshalb hat dieses Thema in der gesamten Deutschen Polizei hohe Priorität – und die Zahlen werden weiter steigen.
Was steht uns da bevor?
Im letzten Jahr haben wir über 63.000 strafrechtlich relevante Meldungen vom NCMEC erhalten, die sich zu großen Teilen in der diesjährigen Statistik niederschlagen werden, und für 2022 rechnen wir mit einem weiteren deutlichen Anstieg der Meldungen.
Diese Schwerpunktsetzung ist mit hohen Aufwänden bei allen Beteiligten der Polizei und der Justiz verbunden. Auch im BKA investieren wir. Wir bauen den Arbeitsbereich weiter aus und investieren in die Digitalisierung und Automatisierung vieler Abläufe - auch im Verbund mit den Ländern.
Was müsste getan werden, um Kinderpornografie einzudämmen und Minderjährige vor sexuellem Missbrauch stärker zu schützen?
Erstens müssen wir das Dunkelfeld weiter aufhellen, auch wenn es eine große Kraftanstrengung ist. Wenn mit dem „Digital Service Act“ auch in Europa eine entsprechende Verpflichtung zur Ausleitung von Verdachtsmaterial kommt, wird dies ein weiterer großer Beitrag sein.
Um die großen Mengen zu bewältigen, müssen wir weiter in die digitale Vernetzung von Polizei und Justiz investieren und Akten und Beweismittel nur noch digital bereitstellen. Wir entwickeln zudem Methoden, um mit künstlicher Intelligenz sichergestellte Datenträger schneller auswerten zu können.
Was wäre nötig, damit die Ermittlungen noch effektiver werden?
Für den Ermittlungserfolg ist es wesentlich, dass wir zu uns übermittelten IP-Adressen vom Provider erfahren, welchem Anschluss diese zugeordnet wurde, da hinter einem Anschluss eine Person oder ein Unternehmen steht. Nicht selten ist dies der einzige Ansatz zur Identifizierung eines Täters. Manche Internetzugangsdienste speichern IP-Adressen sieben Tage, andere nur drei Tage oder gar nicht. Weil die gesetzliche Mindestspeicherfrist aktuell in Deutschland nicht umgesetzt wird, muss jedes Jahr eine vierstellige Zahl mangels anderer Ermittlungsansätze eingestellt werden.
Auch müssen wir noch stärker priorisieren. In vielen Fällen leiten Minderjährige kinderpornografisches Material ohne großes Unrechtsbewusstsein weiter. Diese Fälle müssen wir anders behandeln als Taten von Pädokriminellen. Einen Schwerpunkt gilt es auch weiterhin in der Präventionsarbeit und in der Sensibilisierung von Internetnutzerinnen und Nutzern zu setzen.
Wie lautet Ihre Prognose für die Entwicklung der Kriminalität 2022? Wo sehen Sie die größten Risiken?
Es gibt langfristige Trends, die sich durch die Corona-Pandemie noch beschleunigt haben. Die Eigentumskriminalität ist in den letzten zehn Jahren um 37 Prozent zurückgegangen. Auf der anderen Seite haben sich Cybercrimedelikte seit 2015 mehr als verdoppelt. Dieser Trend wird sich sicher fortsetzen. Der überaus starke Rückgang der Eigentumskriminalität in den letzten zwei Jahren, der auch auf die Corona-Schutzmaßnahmen zurückzuführen ist, könnte sich dabei abflachen oder sogar pausieren. Die zunehmende Digitalisierung der Kriminalität wird aber keine Pause machen.
Krisen und gesellschaftliche Verunsicherung haben in den letzten zehn Jahren zu einem kontinuierlichen Anstieg der politisch motivierten Kriminalität geführt. Ob sich dies auch im Jahr 2022 so fortsetzt, hängt sicher auch mit gesellschaftlichen Ereignissen zusammen, die wir noch nicht vorhersehen können. Vor drei Jahren wussten wir auch noch nicht, dass uns Straftaten radikaler Impfgegner beschäftigen würden.
Wir sind auf jeden Fall gut beraten, unsere Anstrengungen und Investitionen noch zu intensivieren, um mit diesen Entwicklungen Schritt zu halten. Das betrifft insbesondere den Ausbau der digitalen Vernetzung der Polizeiarbeit in Deutschland.