Bundeskriminalamt (BKA)

Interview: “Es gab noch nie so viele Drogen in Deutschland wie heute“

BKA-Präsident Holger Münch im Interview mit der "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ)

Neue Zürcher Zeitung: Herr Münch, wir sprechen miteinander einen Tag nach der Verhaftung von vier mutmasslichen Hamas-Terroristen, die Anschläge gegen jüdische oder israelische Einrichtungen geplant haben sollen. Wie konkret waren diese Pläne?

Holger Münch: Das werden wir erst wissen, wenn wir alle Asservate ausgewertet haben. Aber es gibt den dringenden Verdacht, dass die Beschuldigten einen Anschlag mutmasslich gegen jüdische Einrichtungen in Europa planten und sich dafür Waffen besorgen wollten, die sie in einem Lager vermuteten.

Neue Zürcher Zeitung: Die mutmasslichen Terroristen vermuteten ein Waffenlager in Polen – wie ist das zu verstehen?

Holger Münch: Die Hamas hat mutmasslich irgendwo in Europa ein Waffenlager angelegt. Genaueres erhoffen wir uns auch durch die Auswertung der Asservate.

Neue Zürcher Zeitung: Anfang Dezember wurden zwei mutmasslich islamistische Jugendliche festgenommen, die einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen geplant haben sollen. Der entscheidende Hinweis kam von einem ausländischen Nachrichtendienst. Wie sehr ist das BKA bei der Bekämpfung von Islamisten auf Hinweise aus dem Ausland angewiesen?

Holger Münch: Es ist eine grosse Stärke, dass es beim Kampf gegen den islamistischen Terrorismus eine sehr intensive internationale Zusammenarbeit gibt. Unsere Partner geben uns Hinweise, wir geben ihnen Hinweise. Eine enge internationale Zusammenarbeit ist gerade bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus für alle Seiten von besonderer Bedeutung und Deutschland hat hiervon bereits mehrfach profitiert.

Neue Zürcher Zeitung: Inwiefern ordnen Sie die jüngsten Anschlagsplanungen der wieder gestiegenen Gefahr islamistischer Terrorakte in Deutschland zu?

Holger Münch: Die Gefahr war nie weg. Wir haben nach wie vor eine hohe Anzahl von radikalisierten Personen, die weiterhin versuchen, sich in den verschiedenen Foren und Chat-Gruppen zu vernetzen. Der aktuelle Nahostkonflikt wirkt als Verstärker, weil er emotionalisiert. Derzeit geht die Gefahr daher insbesondere von radikalisierten Einzeltätern oder Kleinstgruppen aus, die vergleichsweise einfach durchzuführende Anschläge planen, zum Beispiel mit Messern oder Fahrzeugen, also mit Gegenständen, die leicht verfügbar sind.

Neue Zürcher Zeitung: Wo sind die geografischen Schwerpunkte der islamistischen Szene in Deutschland?

Holger Münch: In den Ballungsräumen haben wir eine höhere Zahl von Gefährdern, vor allem in Nordrhein-Westfalen, mit den vielen großen Städten, und in Berlin.

Neue Zürcher Zeitung: Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel sehen wir einen starken Anstieg religiös motivierter Straftaten, massiven Antisemitismus und islamistische Terrorpropaganda in Deutschland. Hat Sie das Ausmass überrascht?

Holger Münch: Die Entwicklung an sich hat mich nicht überrascht, die Grössenordnung aber schon. Wir haben mehr als 4700 Straftaten in Zusammenhang mit den Terrorangriffen auf Israel seit dem 7. Oktober registriert. Es handelt sich dabei recht häufig um antisemitische Straftaten, die u.a. als Sachbeschädigungen oder Propaganda- und Volksverhetzungsdelikte bei der Polizei erfasst werden. Ein Großteil dieser Straftaten wird von Personen begangen, die wir der Politisch motivierten Kriminalität- ausländische Ideologie oder religiöse Ideologie zurechnen. Das bedeutet eine erhebliche Verschärfung der Situation, denn die antisemitischen Straftaten sind auch im rechten Milieu auf hohem Niveau geblieben.

Neue Zürcher Zeitung: Viele Täter haben keinerlei Respekt und Achtung vor den deutschen Gesetzen und der Geschichte. Warum greifen unsere Sicherheitskräfte bei Antisemitismus und Israel-Feindlichkeit nicht härter durch?

Holger Münch: Das tun wir. Sobald Demonstrationen aus dem Ruder laufen, werden sie, wenn möglich, beispielsweise aufgelöst. Es hat über 100 Kundgebungsverbote seit dem 7. Oktober gegeben. Gerade gab es einen europäischen Aktionstag mit zahlreichen polizeilichen Maßnahmen gegen Hass und Hetze. Aber, ja, wir müssen noch klarer sein, was unsere Erwartungshaltung an alle hier in Deutschland lebenden Menschen ist. Es muss klar sein, das bestimmte Werte, die gerade auf unserer Geschichte beruhen, unantastbar sind. Dazu zählen das Existenzrecht Israels ebenso wie die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Neue Zürcher Zeitung: Antisemitismus, Israel-Feindlichkeit, das alles hat man jahrelang vor allem im rechten Milieu verortet. Nun zeigt sich, dass die Gefahr eher von Migranten kommt. Haben die Sicherheitskräfte zu wenig dorthin geschaut?

Holger Münch: Die Dimension im Bereich dieser Straftaten ist neu. Antisemitismus hat im linken und rechten Spektrum zugenommen, und, ja, er ist auch importiert. Viele Menschen sind aus Regionen in unser Land gekommen, in denen Israel als Feind gilt und wo die Vorstellung herrscht, dass Juden bekämpft werden müssen. Wir haben also auch einen importierten Antisemitismus, den muss man benennen und gegen ihn vorgehen. Es ist daher wichtig, dass auch Zugewanderte sich mit deutscher Geschichte und deutschen Haltungen und Werten beschäftigen.

Neue Zürcher Zeitung: Bei der Vorstellung der Kriminalitätsstatistik im März haben Sie gesagt, es gebe eine Auffälligkeit beim Zusammenhang zwischen ausländischer Herkunft oder Staatsangehörigkeit und Gewalt. Wie haben Sie das gemeint?

Holger Münch: Wir sehen einen deutlichen Anstieg der Gewaltkriminalität insgesamt. Bei nichtdeutschen Tatverdächtigen ist dieser Anstieg höher als bei deutschen Tatverdächtigen. Im Verhältnis zum jeweiligen Anteil an der Bevölkerung relativiert sich der Anstieg allerdings. Wir werden diese Entwicklung weiterhin differenziert beobachten.

Neue Zürcher Zeitung: Woran liegt das?

Holger Münch Zum einen sind mit den Zugewanderten der vergangenen Jahre überproportional viele männliche Jugendliche beziehungsweise junge Männer nach Deutschland gekommen. Wir wissen, dass das Übertreten von Regeln, auch das Begehen von Straftaten, zum Erwachsenwerden gehört – unabhängig davon, ob jemand einen Migrationshintergrund hat oder nicht. Wir sehen bei Zugewanderten allerdings auch immer wieder sehr unterschiedliche Bildungsniveaus, viele kommen in unserer Leistungsgesellschaft nicht an. Außerdem haben viele von ihnen massive Gewalt etwa in Kriegs- oder Krisengebieten oder auf der Flucht erlebt, was mit einer erhöhten eigenen Gewaltbereitschaft einhergehen kann.

Neue Zürcher Zeitung: Auch die Zahl der Sexualstraftaten ist stark gestiegen. Welche Erklärung gibt es dafür?

Holger Münch: Sexualstraftaten sind eine besondere Form von Gewalt. Die Ursachen sind sehr ähnlich. Wir gehen aber auch davon aus, dass eine Verschiebung vom Dunkel- ins Hellfeld stattgefunden hat und Sexualstraftaten heute häufiger angezeigt werden.

Neue Zürcher Zeitung: Es hiess bisher, die meisten Sexualstraftaten finden im privaten Umfeld statt. Gilt das noch?

Holger Münch: Das gilt immer noch. Aus der Dunkelfeldforschung wissen wir, dass Sexualstraftaten häufig durch Partner oder Ex-Partner, Freunde oder Bekannte begangen werden. Die Gewalt in diesen Fällen wird aber sehr viel seltener bei der Polizei angezeigt.

Neue Zürcher Zeitung: Was muss geschehen, um dem Anstieg der Kriminalität entgegenzuwirken?

Holger Münch: Eine wirksame Prävention bestünde zum Beispiel darin, dass junge Menschen in Deutschland gewaltfrei aufwachsen können und eine realistische Chance haben, in der Gesellschaft eine Rolle zu spielen.

Neue Zürcher Zeitung: Kann man sagen, dass sich unsere Gesellschaft einen Gefallen täte, wenn sie Zugewanderte besser integrieren würde, weil dadurch etwa die Kriminalität sinkt?

Holger Münch: Ja, das kann man. Wir sehen das an den Entwicklungen in der polizeilichen Kriminalstatistik. 2015/2016 zum Beispiel hatten wir einen deutlichen Anstieg der Fallzahlen im Bereich Gewaltkriminalität, einhergehend mit dem umfangreichen Migrationsgeschehen. Ab 2017 sind die Zahlen wieder gesunken, während die Menschen immer noch da waren und die Zuwanderung weiterging. Man kann daraus also ableiten, dass es zu einem Rückgang der Kriminalität führt, wenn in Integration investiert wird.

Neue Zürcher Zeitung: Das heisst, nicht die Migration an sich ist das Problem, sondern problematisch wird es, wenn zu viele Flüchtlinge auf einmal kommen?

Holger Münch: Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Eigentums- und Gewaltkriminalität und einer hohen Migrationsdynamik. Die Steuerung von Migration ist also ein wichtiger Faktor. Wenn man das dem freien Spiel der Kräfte überlässt, müssen wir davon ausgehen, dass es zumindest temporär einen steilen Anstieg von Kriminalität gibt.

Neue Zürcher Zeitung: Man muss den Eindruck haben, dass dies bei einigen Politikern nicht ankommt. Die Grünen zum Beispiel blockieren gerade eine Verschärfung der Asylpolitik. Zeigen Sie der Politik die Zusammenhänge zwischen ungesteuerter Migration und Kriminalität nicht genügend auf?

Holger Münch: Wir haben zu unserer Herbsttagung eine Auswertung zum jüngsten Anstieg in der Kriminalitätsentwicklung vorgestellt. Dabei spielt die aktuell hohe Migrationsdynamik eine Rolle, aber nicht die einzige. Auch die größere Mobilität der Menschen nach dem Ende der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Deutschland ist ein Faktor. Dazu kommt die Inflation, das heißt, mehr Menschen sorgen sich, von ihrem Einkommen noch leben zu können. So treffen mehrere Faktoren zusammen, von denen wir wissen, dass sie Gewalt- und Eigentumsdelikte wahrscheinlicher machen. Und genauso ist es derzeit zu beobachten: Die Kriminalität steigt.

Neue Zürcher Zeitung: Auch bei der Kinder- und Jugendkriminalität gibt es einen starken Anstieg nichtdeutscher Tatverdächtiger insbesondere unter ukrainischen und syrischen Flüchtlingen. Wie ist das zu erklären?

Holger Münch: Wir sehen sowohl bei deutschen als auch bei nichtdeutschen Kindern und Jugendlichen einen hohen Anstieg insbesondere der Gewaltkriminalität. Bei den ukrainischen jugendlichen Täterverdächtigen sind es besonders Eigentumsdelikte, also Diebstahl, bei den syrischen vermehrt Gewaltdelikte. Sicher spielen auch eine fremde Umgebung und der Verlust von Sicherheit eine Rolle, wenn geflüchtete Kinder und Jugendliche kriminell werden. Wir schauen vor allem auf die Zahl der Wiederholungstäter. Wenn Jugendliche wiederholt straffällig werden, ist das ein Alarmsignal. Da sehen wir bei beiden Zuwanderungsgruppen über alle Altersgruppen hinweg aktuell jedoch keine beunruhigenden Zahlen.

Neue Zürcher Zeitung: Der Kriminalitätsanstieg bei Kindern und Jugendlichen macht Ihnen also keine Sorgen?

Holger Münch: Doch, ganz besonders sogar. Wir werden das nicht nur weiter beobachten, sondern auch analysieren müssen. Nach Corona gab es einen gewissen «Nachholeffekt», da war der Anstieg erklärbar. Aber inzwischen geht es darüber hinaus und wir müssen uns fragen, ob sich grundsätzlich etwas verschoben hat.

Neue Zürcher Zeitung: Die zügige Bestrafung und Aburteilung von Straftätern dauert in Deutschland immer noch sehr lange. Inwiefern stellt es für Ihre Arbeit ein Problem dar, wenn die abschreckende Wirkung fehlt?

Holger Münch: Es fehlt weniger die abschreckende Wirkung, denn das würde bedeuten, dass sich andere Straftäter oder mögliche Straftäter von den Strafen beeindrucken liessen. Das tun sie aber nicht. Eine zügige Bestrafung ist vor allem bei jungen Menschen und einfachen Delikten wichtig, um kriminelle Karrieren zu verhindern. Gerade bei jungen Menschen muss die Konsequenz auch möglichst zeitnah zur Tat erfolgen. Und da ist die vielfache Überlastung unserer Gerichte nicht hilfreich.

Neue Zürcher Zeitung: Schweizer Städte wie Zürich oder Bern zählen verschiedenen Rankings zufolge zu den sichersten Städten der Welt. Was machen sie anders, warum läuft es da besser als in deutschen Städten?

Holger Münch: Ich glaube, dass man aus solchen Rankings nur bedingt Ableitungen für die Kriminalitätsbekämpfung treffen kann. Deutschland ist im internationalen Vergleich immer noch ein sehr sicheres Land. Aber prosperierende Städte wie München, Zürich oder Bern haben eben andere Startbedingungen als eine strukturschwache Region.

Neue Zürcher Zeitung: Heisst das im Umkehrschluss, dass in einer Region, in der es perspektivisch wirtschaftlich bergab geht, mutmasslich die Kriminalität steigen wird?

Holger Münch: Kriminalitätsgeschehen hängt von mehreren Faktoren ab, insofern ist das nicht zwingend so. Aber: Ja, die Möglichkeit besteht, was zugleich aber auch bedeutet, dass man seine Sicherheitsressourcen frühzeitig darauf ausrichten kann.

Neue Zürcher Zeitung: Als Sie im Herbst den Jahresbericht «Organisierte Kriminalität» vorlegten, sprachen Sie von einer wachsenden Zahl schwerer Gewalttaten in diesem Bereich. Inwieweit beeinträchtigt diese Entwicklung das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung?

Holger Münch: In der Organisierten Kriminalität geht es in der Regel um viel Geld. Innerhalb dieser Gruppen und zwischen ihnen kommt es deshalb immer öfter zu Machtkämpfen, die mit Gewalt ausgetragen werden. Das belegen die Zahlen aus 2022 mit 38 Tötungsdelikten, davon 16 vollendet, sowie 76 vollendeten Fällen von mehrheitlich schwerer und gefährlicher Körperverletzung. Die Wahrnehmung solcher Delikte hat natürlich Einfluss auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung, da muss ich gar nicht unmittelbar betroffen sein. Wenn solche Auseinandersetzungen dann im öffentlichen Raum stattfinden, steigt das Risiko aller, davon auch betroffen zu werden.

Neue Zürcher Zeitung: Organisierte Kriminalität macht ihre Geschäfte am besten im Verborgenen. Wie ist es zu erklären, dass die ihre Konkurrenz plötzlich öffentlich austragen?

Holger Münch: Öffentliche Machtkämpfe mit Gewalteskalationen gibt es in Europa, beispielsweise in Belgien, Schweden oder den Niederlanden, vor allem zwischen verfeindeten Banden im Bereich Rauschgiftkriminalität. Vereinzelt sehen wir diese Entwicklung auch in Deutschland. Die Gewinnspannen sind enorm, es geht also um viel Geld. Und es gibt ein großes Angebot an Drogen in Europa, unter anderem durch Produktionszuwächse in den Anbaugebieten, wie bei Kokain in Südamerika. Gleichzeitig ist der Drogenmarkt in Nordamerika gesättigt. Europa gerät deshalb immer stärker in den Fokus der Kartelle.

Neue Zürcher Zeitung: Hat sich der Trend in diesem Jahr fortgesetzt?

Holger Münch: Ja. Es gab noch nie so viele Drogen in Deutschland wie heute. Allein in diesem Jahr haben wir bislang 35 Tonnen Kokain sichergestellt, eine Rekordmenge – ohne Effekt auf den Markt, die Preise blieben konstant. Das lässt erahnen, wie viele Drogen insgesamt auf den Markt gebracht werden. Wir werden 2023 für Deutschland bei der Rauschgiftkriminalität einen neuen Höchstwert erreichen.