- Datum:25. Mai 2024
- Interview mit: BKA-Präsident Holger Münch
taz: Herr Münch, Sie warnten schon vor acht Jahren vor Angriffen auf Kommunalpolitiker: Dies seien „keine Einzelfälle“, man müsse dagegen „entschieden vorgehen“. Nun gibt es erneut Attacken auf Wahlkämpfende, der sächsische SPD-Europakandidat Matthias Ecke wurde in Dresden krankenhausreif geprügelt. Was haben Sie gedacht, als Sie diese Nachricht hörten?
Holger Münch: Das war natürlich ein schreckliches Ereignis, aber wir beobachten diesen Trend tatsächlich schon länger. Wir haben im vergangenen Jahr 5.400 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger registriert, in den vergangenen fünf Jahren hat sich die Zahl verdreifacht. Zum Glück waren davon nur ein Bruchteil Gewaltdelikte. Aber wir sehen, dass die Unzufriedenheit mit staatlichen Institutionen Beleidigungen und Bedrohungen befördert, und auch Gewalt. Und das häuft sich nun vor den anstehenden Wahlen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach nach dem Angriff auf Matthias Ecke von einer „neuen Dimension antidemokratischer Gewalt“. Ist das so? Oder doch trauriger Alltag?
Ich würde von einer auffälligen Häufung der Gewalt sprechen. Der Angriff gegen den sächsischen Europaabgeordneten Matthias Ecke war eine äußerst brutale Gewalttat, die zeigt, wohin politische Aggression führen kann. Solche Gewalt kann sich bis hin zu versuchten oder vollendeten Morddelikten steigern – wie wir es etwa im Fall Walter Lübcke erleben mussten. Um genau nicht dorthin zu kommen, sind wir sehr aufmerksam und alarmiert.
Matthias Ecke erklärte, er werde sich nicht unterkriegen lassen, konstatierte aber „eine organisierte Verrohung, getrieben durch die extreme Rechte“. Hat er Recht?
Wir führen halbjährlich innerhalb des Forschungsverbunds Motra Befragungen von kommunalen Amts- und Mandatsträgern durch. Fast 40 Prozent sagen, dass sie im zurückliegenden Halbjahr schon Opfer von Anfeindungen geworden sind. Aber nur 20 Prozent erklärten, die Angriffe seien aus klar politischen Motiven erfolgt. Die anderen Fälle schrieben sie allgemeinem Frust oder Unzufriedenheiten mit behördlichen Entscheidungen zu.
Also keine organisierte Verrohung, sondern ein wütender Individualismus?
Nicht nur. Es werden auch, gerade über Social Media, gezielt Narrative und Feindbilder gesetzt. Jeder politische Akteur, der nicht dazu beiträgt, dass es einen sachlichen Diskurs gibt, sondern Sündenböcke aufbaut - Stichwort Ausländerproblem und Remigration – trägt zu dieser Polarisierung bei.
Hat die AfD also eine Mitschuld?
Die AfD hat eine besondere Rolle, weil sie gerade in Social Media eine sehr breite Präsenz hat. Eine solche Präsenz kann man einsetzen, um zu beruhigen oder zu beunruhigen. Und zur Beruhigung tragen viele der AfD-Veröffentlichungen nicht bei. Aber natürlich ist es auch keine Lösung, wenn Angriffe auf die AfD verübt werden, wie wir es auch immer wieder erleben. Auch das trägt zur Polarisierung bei und wird von uns ebenso verfolgt.
2023 wurden die meisten Straftaten gegen Vertreter der Grünen verübt, die meisten Gewalttaten gegen die der AfD.
Ja, vor ein paar Jahren traf es vor allem die AfD, seit 2022 stehen besonders die Grünen im Visier. Das kann mit umstrittenen Entscheidungen im Zuge des Ukrainekriegs zu tun haben, wie dem sogenannten Heizungsgesetz – für die die Grünen als Schuldige ausgemacht wurden. Aber es hat eben auch mit bewusst produzierten Feindbildern zu tun.
Wie gefährdet ist dadurch die Demokratie?
Die Zahlen sind zumindest ein Alarmsignal. Keiner kann sagen, was der Schwellenwert ist, an dem die Demokratie kippt. Aber wenn 10 Prozent der Amts- und Mandatsträger sagen, sie überlegten wegen der Anfeindungen aufzuhören und weitere fast 10 Prozent angeben, aufgrund der Anfeindungen nicht mehr kandidieren zu wollen, ist dieser Wert deutlich zu hoch. Die Mitgliederzahlen der Parteien in den letzten 30 Jahren gehen rapide bergab. Wir müssen uns dringend Gedanken machen, wie wir in Deutschland für dieses Staatswesen eintreten wollen. Ein Schlüssel liegt in der vielfältigen Gesellschaft. Viele Menschen kommen zum BKA oder anderen Polizeibehörden, weil sie sich für das Gemeinwohl einbringen wollen. Diese Kräfte noch stärker zu aktivieren, auch für die Polizei, darauf wird es in den nächsten Jahren ankommen.
Gerade erst haben Sie die Zahlen der politischen Kriminalität für 2023 vorgestellt: Sie liegen auf einem Rekordhoch, rechte Delikte weit vorn. Gerät da was aus den Fugen?
Die Zahlen sind ein Gradmesser für die Verunsicherung und Polarisierung dieser Gesellschaft. Das ist der Nährboden für politische Gewalt. Wir hatten eine Menge an Krisen in den letzten Jahren zu bewältigen, im Grunde seit der Finanzkrise 2008, in denen sich dann auch Personen, die vorher unpolitisch waren, zu politischer Gewalt hinreißen ließen – Stichwort Querdenker. Nach Rücknahme der Pandemiemaßnahmen im vergangenen Jahr waren wir von sinkenden Zahlen ausgegangen, aber dann kam der 7. Oktober und die Straftaten mit Nahostbezug schnellten nach oben, Antisemitismus genauso wie Islamfeindlichkeit.
In Frankfurt am Main läuft derzeit der Prozess gegen die Reichsbürger-Gruppe um Prinz Reuß, die laut Ihren Ermittlungen einen Umsturzplante. Wie groß ist aktuell die rechte Terrorgefahr?
Vorweg: Die Gruppe ist bei uns nicht in die Kategorie Politisch Motivierte Kriminalität von rechts (PMK-rechts) eingestuft. Wir sehen dort durchaus einige, die wir dem rechten Spektrum zuordnen, aber nicht alle. Diese Zuordnung passiert bei Reichsbürgern nicht automatisch, sondern nur, wenn eine rechte Gesinnung dazukommt, wie das Propagieren von Ungleichheit. 2023 sind beispielsweise von den insgesamt 1.300 Straftaten, die Reichsbürgern beziehungsweise Selbst verwaltern zugeordnet wurden, lediglich knapp 20 Prozent im Phänomenbereich PMK-rechts zu verorten.
Wie kann das sein? Reichsbürger folgen revisionistischen, oft antisemitischen Ideologien.
So eindeutig ist es eben oft nicht. Aber es wird natürlich auch so jedes Delikt von Reichsbürgern erfasst, jeder Gefährder. Wir haben hier kein Erkenntnisdefizit.
Und wie groß ist nun die rechte Terrorgefahr?
Mit den Anschlägen des NSU, auf Walter Lübcke, in Halle und Hanau, oder mit Gruppen wie Oldschool Society oder Knockout51 haben wir gesehen, dass die rechtsextreme Terrorgefahr real ist. Deshalb haben wir das sehr intensiv im Blick und hier auch unsere Kapazitäten ausgebaut.
Wenn wir immer neue Höchststände der Straftaten erleben, dann hat Ihr „entschiedenes Vorgehen“, das Sie 2016 angekündigten, wohl nicht geklappt?
Es wäre zu einfach, dafür die Polizei und Justiz verantwortlich zu machen. Wir arbeiten an den Symptomen der gesellschaftlichen Umbrüche. Was wir als Polizei tun können, ist die Debatte zu versachlichen und die weiteren Auswüchse der politischen Kriminalität, aus denen eine Terrorgefahr wachsen kann, zu bekämpfen. Wir nehmen dafür Personen, die ein Risiko sein könnten, stärker in den Blick, seit Jahren schon. Und wir ermitteln intensiv zu unbekannten Personen, um Netzwerke besser zu erkennen. So wie zuletzt eben bei der Reichsbürger-Gruppierung, die nun vor Gericht steht. Zudem haben wir 2021 auch eine Zentralstelle für Internetkriminalität aufgebaut, um Hasspostings zu bekämpfen. Am Ende aber braucht es eine gesamtgesellschaftliche Antwort.
Wie muss die aussehen?
Jeder muss seinen Beitrag leisten, um das Vertrauen in die Demokratie wieder zu stärken. Die Politik, das Bildungssystem, die Ehrenamtlichen, wir als Polizei. Die Demonstrationen für Demokratie zu Jahresbeginn waren ein wichtiges Signal, dass die Mehrheitsgesellschaft hinter diesem System steht. Wir dürfen denen, die destruktiv sind, nicht die Diskussionsräume überlassen. Die Frage, wie wir Debatten analog und digital führen, ist ganz entscheidend. Wir müssen in den Schulen anfangen, in den Gemeinden, und über die Spielregeln unserer Diskussionen reden. Dass wir uns austauschen, aber nicht abwerten. Dass Gewalt nicht toleriert werden kann. Und dass allen klar ist, was Politik leisten kann und was die Grenzen sind.
Faeser forderte angesichts der PMK-Zahlen mehr Ermittlungsdruck und schnelle Verfahren. Arbeitet Ihre Polizei nicht schnell genug?
Wir ermitteln in allen Bereichen sehr intensiv, aber wir müssen uns auch auf neue Situationen einstellen, vor allem im Digitalen. Die Zahlen unserer Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet entwickeln sich ständig nach oben. 13.000 Hinweisen sind wir im gesamten vergangenen Jahr nachgegangen, im letzten Monat waren es nun bereits 2.600. Das ist auch gut so, denn wir wollen, dass Straftäter Konsequenzen spüren. Aber es kostet Ressourcen. Deshalb müssen wir stärker priorisieren, im frühzeitigen Austausch mit der Justiz. Wir müssen die Mehrfach- und Intensivtäterkonzepte aus dem analogen in den digitalen Bereich übertragen.
Bei der Meldestelle hatten Sie ursprünglich mit rund 250.000 Meldungen jährlich gerechnet, übermittelt von den Onlineplattformen – die aber bis heute nicht kooperieren.
Die Plattformen haben erfolgreich gegen das NetzDG geklagt, dass sie strafbare Postings nicht übermitteln müssen. Wir kooperieren bei der Zentralen Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet weiterhin mit NGOs, die uns Meldungen übermitteln, mit steigender Tendenz. Seit Februar 2024 gelten zudem die Vorschriften des europäischen Digital Services Act nun für alle Hostingdiensteanbieter unabhängig von der Größe.
Gefordert werden jetzt auch mehr Polizeischutz für Wahlkämpfende und höhere Strafen für Angriffe.
Beim Schutz für politisch Aktive ist die Sensibilität in allen Dienststellen aktuell vorhanden. Hier sind eine enge Vernetzung wichtig und Ansprechstellen für die Betroffenen. Ein Problem ist, dass nur 11 Prozent der Mandatsträger die Anfeindungen bisher anzeigten. Das müssen wir steigern, mit Hilfe von NGOs oder Onlineportalen, denn nur so können wir Straftaten auch ermitteln. Eine konsequente Strafverfolgung ist wichtiger als die Diskussion über noch höhere Strafen.
Sie sind nun zehn Jahre BKA-Chef, haben Anschläge von Anis Amri bis Hanau erlebt. Wann ist der Punkt, an dem Sie sagen: Es reicht?
Die Herausforderung sind nicht die einzelnen Ereignisse, sondern die Aufgabe, sich auf ständig wechselnden Gegebenheiten einzustellen. Die Verlagerung des Kriminellen ins Digitale beschäftigt uns aktuell stark, nun wird als Mammutaufgabe das Thema Künstliche Intelligenz folgen. Amtsmüdigkeit kommt da nicht auf.