- Datum:21. November 2024
- Interview mit: BKA-Präsident Holger Münch
DIE ZEIT: Herr Münch, vor fünf Jahren haben wir mit Ihnen über Kriminalität gesprochen, damals haben Sie selbstbewusst gesagt: "Die Sicherheitslage ist gut." Gilt Ihr Satz noch?
Holger Münch: Nein. Ich würde heute sagen: Die Sicherheitslage ist angespannt. Mehrere Entwicklungen haben in den vergangenen fünf Jahren dazu geführt, dass wir eine völlig veränderte Lage haben.
ZEIT: Was hat sich verändert?
Münch: 2018 und auch noch 2019 war die Kriminalität auf einem historischen Tiefstand – und dann kam Corona. Zunächst hat das dazu geführt, dass die Zahlen nochmals sanken. Denn mit der Beschränkung der Mobilität gab es logischerweise weniger Anlässe für Straftaten. In Teilen hat sich die Kriminalität aber in dieser Zeit auch ins Internet verlagert. Und die Polarisierung der Gesellschaft hat sehr stark zugenommen. Dass die Kriminalität insgesamt nach der Pandemie wieder wächst, war zu erwarten, aber einige Entwicklungen sind über das erwartbare Maß hinausgegangen.
ZEIT: Welche sind das?
Münch: Vor allem die Gewaltkriminalität hat seitdem stark zugenommen und die Kinder- und Jugendkriminalität, vornehmlich bei den Jüngeren. Nach der Pandemie kamen drei Dinge zusammen: Wir verzeichnen erstens eine Zunahme von digitalen Straftaten im Netz, insbesondere aus dem Ausland heraus. Wir haben zweitens eine Zunahme der Gewaltkriminalität. Und dann erleben wir drittens zwei Kriege, einen in der Ukraine und einen im Nahen Osten. Der damit verbundene Anstieg der Inflation und die wirtschaftlichen Folgen haben wahrscheinlich dazu beigetragen, dass die Anzahl von Straftaten in Teilbereichen der Eigentumskriminalität sowie die Gewaltkriminalität gestiegen sind. Die Polarisierung und Radikalisierung haben zugenommen, ebenso die Migration. Bei politisch motivierter Kriminalität haben wir in den vergangenen Jahren immer neue Höchststände erreicht, und man kann jetzt schon sagen: Es wird auch dieses Jahr wieder einen neuen Höchststand geben.
ZEIT: Worin genau besteht der Zusammenhang zwischen der Pandemie und den gestiegenen Straftaten von Kindern? Entlädt sich jetzt ein Überdruck, der durch die Lockdowns entstanden ist?
Münch: Kinder und Jugendliche waren von den covidbedingten Einschränkungen in besonderem Maße betroffen, etwa durch einen Mangel an sozialen Kontakten, Stressbelastung innerhalb der Familie und beengte räumliche Verhältnisse. Und die psychischen Belastungen wirken zum Teil nach Beendigung der Maßnahmen fort. Das zeigen auch Daten zur Zunahme psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen. Das ist etwas, was nicht nur wir als Polizei beobachten müssen, sondern auch Pädagogen an Schulen und Jugendeinrichtungen. Wie groß und langfristig das Problem wird, können wir noch nicht genau abschätzen. Es ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass Kinder und Jugendliche, die heute mit Gewalttaten auffällig werden, auch im Erwachsenenalter weitere Straftaten begehen. Und das verdient unsere höchste Aufmerksamkeit.
ZEIT: Über welches Alter reden wir?
Münch: Wir reden über Kinder unter 14 Jahren und Jugendliche zwischen 14 bis unter 18 Jahren. In beiden Gruppen sehen wir im Vergleich zu 2019, also dem Jahr vor den coronabedingten Einschränkungen, deutlich mehr polizeilich registrierte Tatverdächtige. Bei den von diesen Altersgruppen begangenen Delikten handelt es sich weit überwiegend um Eigentumskriminalität wie Ladendiebstahl sowie um Körperverletzungen und Sachbeschädigungen.
ZEIT: Die Kids klauen und prügeln sich also.
Münch: Ja, und das ist in diesem Zeitraum der Adoleszenz auch normal, aber nicht in diesem Ausmaß. In den vergangenen Jahren ist die Kinder- und Jugendkriminalität über lange Zeiten zurückgegangen – und jetzt beobachten wir einen sehr steilen Anstieg. Die Gesellschaft muss sich fragen: Gehen wir damit gut genug um? Das beginnt in der Schule und bei der psychologischen Betreuung und geht bis zur Präsenz von Polizisten in Schulen. Wir brauchen das volle Programm an Reaktionen.
ZEIT: Hat Covid die Gesellschaft also nicht nur krank, sondern auch krimineller gemacht?
Münch: Corona hat jedenfalls die politische Polarisierung stark gefördert. Zusammen mit dem Ukrainekrieg und den wirtschaftlichen Folgen hat das die Gesellschaft massiv verunsichert. Mit den Folgen kämpfen wir jetzt.
ZEIT: Lassen Sie uns über die sogenannte Ausländerkriminalität reden. Seit den Morden von Mannheim und Solingen ist die öffentliche Diskussion über Kriminalität mit dem Thema Migration verschmolzen. Wie sehen Sie die Lage?
Münch: Zuwanderung hat natürlich Auswirkungen auf die Kriminalität. Mehr Menschen bedeutet ganz simpel mehr Kriminalität. Allerdings sind viele Zugewanderte jünger und verfügen über eine geringere Bildung. Es kommen vor allem auch junge Männer, die grundsätzlich immer krimineller sind als der gesellschaftliche Durchschnitt, egal ob zugewandert oder hier geboren. Dazu kommt, dass Flüchtlingsunterkünfte zu potenziellen Brennpunkten werden können, wo Täter und Opfer unter einem Dach leben. Immer dann, wenn Integration nicht zügig gelingt, geht dies mit einem Anstieg der Kriminalität einher.
ZEIT: Wie kann die Gesellschaft darauf reagieren?
Münch: 2015 und 2016 ist die Kriminalität von Zugewanderten schon einmal stark gestiegen, parallel zur damals starken Migration. Mit Rückgang der Migrationsdynamik und als die Integration besser lief, sank die Zahl der nicht deutschen Tatverdächtigen wieder, weil sich die Lebenssituation der Menschen verändert hat. In den vergangenen zwei Jahren hat die Zuwanderung erneut stark zugenommen, entsprechend auch der Anteil von nicht deutschen Tatverdächtigen. Wie nach 2015 wird es wieder eine Weile dauern, bis die Zahlen sinken. Die entscheidenden Fragen sind: Wie viel Migration können wir in Deutschland verkraften? Und wie gelingt Integration? Danach müssen wir Migration regeln. Aber eins ist mir wichtig: Migration ist nur eine von vielen Erklärungen für die gestiegene Kriminalität.
ZEIT: Die Frage, ob Ausländer krimineller als Deutsche sind, ist hochumstritten. Sind sie es nun, oder sind sie es nicht?
Münch: Menschen aus anderen Ländern sind nicht prinzipiell krimineller. Aber häufig bringen die Menschen verschiedene Risikofaktoren wie zum Beispiel Armut, geringe Bildung oder ein junges Lebensalter mit. Dazu kommen dann teilweise Traumatisierungen und Gewalterfahrungen. So pauschal stimmt der Satz also nicht. Allerdings stammen diejenigen, die besonders auffällig sind und mehrfach Straftaten verübt haben ...
ZEIT: ... die sogenannten Intensivtäter ...
Münch: ... insbesondere aus Ländern wie etwa den Maghreb-Staaten, Libyen oder Georgien. Unter ihnen befindet sich zudem ein hoher Anteil junger Männer. Die Frage, wie wir mit Tatverdächtigen umgehen, die immer wieder auffallen, ist entscheidend für die Akzeptanz von Zuwanderung.
ZEIT: Die Messerstecher von Mannheim und Solingen kamen aus Afghanistan und aus Syrien. Zählen diese Länder zu den Problemstaaten?
Münch: Nein, der Anteil der Tatverdächtigen aus Syrien und Afghanistan entspricht in etwa ihrem Anteil an der Zuwanderung. Die Gesamtzahlen sind zwar hoch, der Anteil der Mehrfachtatverdächtigen aus Syrien und Afghanistan liegt jedoch unter der entsprechenden Gesamtquote.
ZEIT: Halten Sie Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan trotzdem für richtig?
Münch: Ja, wenn der Eindruck entsteht, Mehrfach- und Intensivtäter haben einen Freifahrtschein und werden nicht abgeschoben, dann ist das fatal. Ich halte es ab einer gewissen Häufigkeit und Schwere von Straftaten für richtig, Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan in Betracht zu ziehen.
ZEIT: Eine Reaktion nach dem Anschlag in Solingen war ein Messerverbot. Was halten Sie davon?
Münch: Messerverbotszonen können an Orten, wo viele Menschen aufeinandertreffen, durchaus sinnvoll sein. Das betrifft Bahnhöfe, Bereiche in Innenstädten und den öffentlichen Personennahverkehr. Es geht ja nicht nur darum, ein Verbot auszusprechen, sondern auch einen Anlass zu schaffen, kontrollieren zu dürfen. Und das hat einen positiven Effekt auf die Sicherheit und das Sicherheitsgefühl.
ZEIT: Aber wer ein Messer mitführen will, wird das vermutlich tun. So flächendeckend können Sie als Polizei doch gar nicht kontrollieren.
Münch: Schon Stichproben entfalten Wirkung. Und wir haben auf Volksfesten ohnehin eine erhöhte Polizeipräsenz. Wenn man die nutzt, um Besucher anzusprechen und mal in ihre Tasche zu schauen, würde ich diesen Effekt nicht unterschätzen.
ZEIT: Die AfD fragt regelmäßig nach den Vornamen von Tatverdächtigen.
Münch: Das ist unseriös, was soll ein Vorname aussagen? Und es birgt die Gefahr, in rassistische Denkmuster zu verfallen. Wichtig ist, auffällige junge Tatverdächtige zu erkennen. Bei den Problemfällen, die wir heute haben, etwa in der Clan-Kriminalität, sehen wir die Folgen der misslungenen Integration aus den Neunzigern. Die Fehler dürfen wir mit dem Blick nach vorne nicht noch mal machen.
ZEIT: Ist in den vergangenen Jahren als Gesellschaft zu wenig darüber gesprochen worden, womöglich mit der noblen Intention, dass man sonst Rassismus verstärken könnte?
Münch: Ja, ich finde schon. Man sieht das beispielsweise am Umgang mit der Forderung des damaligen Bundesinnenministers Horst Seehofer nach einer Obergrenze bei der Migration. Es hieß, das sei zu schwer zu regeln und was man denn machen solle, wenn der 200.001. Migrant an der Grenze auftaucht. Und das stimmt auch alles. Aber die Frage, die Herr Seehofer gestellt hat, beschäftigt uns jetzt wieder: Wie viel Zuwanderer kann Deutschland integrieren? Was bedeutet Zuwanderung für die Engstellen unserer Gesellschaft, die ja schon 2015 und 2016 unter Druck gerieten? Haben wir diese Probleme gelöst? Wir müssen uns trauen, über die Größenordnung von Zuwanderung zu sprechen, damit unsere Systeme sich darauf einstellen können.
ZEIT: Warum reden wir in der öffentlichen Debatte so wenig darüber, dass es eine Gruppe gibt, die für die allermeisten Straftaten verantwortlich ist: junge Männer, egal welcher Herkunft?
Münch: Das ist eine sehr alte Erkenntnis. Ich finde auch nicht, dass wir nicht drüber reden. Wir reden mittlerweile mehr darüber, auch über die Opfer, Stichwort Gewalt gegen Frauen. Die zentrale Frage ist: Was sind die richtigen Maßnahmen? Wir müssen sehr schnell und klar reagieren. Dabei geht es gar nicht so sehr um die Höhe von Strafen, sondern um klare Botschaften. Junge Menschen müssen spüren, wenn sie eine Grenze überschritten haben.
ZEIT: Fast jeden zweiten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem aktuellen oder ehemaligen Partner ermordet. Warum gibt es bei sogenannten Femiziden keinen Aufschrei?
Münch: Wir sind bei dem Thema in den vergangenen Jahren deutlich sensibler geworden. Wir haben auch Verbesserungen erreicht, etwa bei der Frage, wer die Wohnung verlassen muss. Aber trotz der Verbesserungen dürfen wir nicht nachlassen. Denn: Die polizeilichen Zahlen zeigen, dass Hass und Gewalt gegen Frauen ein zunehmendes gesellschaftliches Problem sind. Neben der Gewalt durch Männer sind Frauen auch bei Hass und Hetze viel stärker betroffen. Im Netz werden Frauen mit üblen Diffamierungen regelrecht überschüttet.
ZEIT: Die Europäische Union hat mit dem sogenannten Digital Services Act versucht, User besser zu schützen. Das Gesetz verpflichtet die Social-Media-Anbieter, illegale Inhalte wie Hassreden oder Terrorpropaganda zu entfernen und mit Behörden wie dem BKA zusammenzuarbeiten.
Münch: Die Versuche, soziale Medien zu regulieren, haben leider bisher nur sehr beschränkten Erfolg. Beim Digital Services Act ist die Regelung zur Meldepflicht extrem schwammig. Gemeldet werden müssen nur Inhalte zu Straftaten, die eine Gefahr für das Leben oder die Sicherheit einer Person darstellen. Es ist aber nicht geregelt, was genau darunter zu verstehen ist und wie gemeldet werden muss. Außerdem fehlt es zumindest bislang an Konsequenzen. Wissen Sie, wie viele Meldungen wir in dem Jahr, abgesehen von den Meldungen im Bereich sexualisierter Gewalt von Minderjährigen, von allen großen Anbietern zusammen bekommen haben, seitdem die Regelung gilt?
ZEIT: Nein.
Münch: Bis vergangene Woche waren es 92 Meldungen, vor allem zu Hasskriminalität und Suiziden und angedrohten Amokläufen oder Gewaltdelikten. In gut einem Jahr! Die großen Social-Media-Unternehmen kümmern sich einfach nicht.
ZEIT: Haben Sie denn einen Überblick, was auf Social Media passiert?
Münch: Wir sind mittlerweile technisch durchaus in der Lage, terroristische und strafrechtliche Inhalte zu erkennen, und es wäre kein Problem, diese zu löschen. Wir haben allein in diesem Jahr bis einschließlich Oktober über 400 Entfernungsanordnungen sowie fast 14.000 Löschersuchen an die Provider gestellt. Bis auf zwei Fallkonstellationen wurden alle Entfernungsanordnungen umgesetzt, die Umsetzungsrate bei den Löschersuchen liegt bei fast 88 Prozent. Manche sehen das als Erfolg. Aus meiner Sicht bedeutet das: Hohe Gewinne werden gern gemacht, die soziale Verantwortung wird von den Unternehmen aber lieber outgesourct. Es muss auch hier dringend nachgeschärft werden. Wir reden bei Social-Media-Plattformen über ein Produkt, das auf dem Markt ist und gefährliche Nebenwirkungen hat.
ZEIT: Verstehen Sie die Sorge, dass damit die Meinungsfreiheit eingeschränkt wird?
Münch: Nein, das verstehe ich nicht. Es bleibt ja jedermann freigestellt, rechtlich zulässige Inhalte zu verbreiten. Ich rede nicht über Inhalte, die sich im rechtlich erlaubten Rahmen bewegen, das ist Meinungsfreiheit. Aber wenn strafrechtliche Grenzen überschritten sind, dann muss das Konsequenzen haben. Und ich rede darüber, dass Radikalisierung nicht gefördert werden sollte, indem einseitig Meinungen oder gar Propaganda durch die Algorithmen verstärkt werden. Unser Gehirn ist so gepolt, dass eine Botschaft durch häufige Wiederholung als Wahrheit hängen bleibt. Kein Wunder, dass sich die Gesellschaft polarisiert, wenn Empfehlungsalgorithmen genau das fördern.
ZEIT: Viel Erfolg in den Verhandlungen mit dem Trump-Liebling Elon Musk, dessen Plattform X eine der größte Schmutzschleudern geworden ist.
Münch: Die Frage ist doch, ob wir in Europa den amerikanischen Weg mitgehen oder unseren eigenen Weg wählen wollen.