Die Gefahr terroristischer Anschläge ist in Deutschland weiterhin hoch: Seit 2012 stieg die Zahl der Einstufungen von Personen als Gefährder oder Relevante Personen kontinuierlich an. Die Gruppe der polizeilich bekannten Personen des islamistischen Spektrums ist nicht nur sehr groß, sondern auch sehr heterogen. Dabei ist auch das tatsächliche Gewaltrisiko, das von diesen Personen ausgeht, individuell verschieden. Um das von diesen Personen ausgehende Risiko für die Begehung einer politisch motivierten schweren Gewalttat in Deutschland zuverlässig und nach einheitlichen Maßstäben bewerten zu können, wurde das Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE (Regelbasierte Analyse potentiell destruktiver Täter zur Einschätzung des akuten Risikos - islamistischer Terrorismus) im Jahr 2017 bundesweit bei der deutschen Polizei eingeführt.
Entwicklung, Einführung und Evaluation
RADAR-iTE wurde seit Anfang 2015 gemeinsam mit der Arbeitsgruppe Forensische Psychologie der Universität Konstanz entwickelt. Die Zusammenarbeit umfasste sowohl die Qualitätssicherung des Instruments als auch die Entwicklungsmethode, die sich bereits bei etablierten Risk-Assessment Instrumenten zur Beurteilung von Gewaltstraftätern bewährt hat. Dies beinhaltete auch eine empirische Untersuchung der wissenschaftlichen Güte des Instruments als Teil des Entwicklungsprozesses.
Im September 2016 wurde RADAR-iTE fertiggestellt. Die stufenweise bundesweite Einführung wurde im Sommer 2017 abgeschlossen.
Nach zweijähriger Anwendungspraxis im Rahmen des Projektes RISKANT (Laufzeit: August 2017-September 2020) wurde RADAR-iTE evaluiert und weiterentwickelt. RADAR-iTE liegt seit 2019 in der Version 2.0 vor. Die Überarbeitung erfolgte unter Beachtung wissenschaftlicher Standards sowie ethisch-rechtlicher Gesichtspunkte in Kooperation mit der Universität Konstanz und der Fachhochschule für Polizei Sachsen-Anhalt.
Funktionsweise von RADAR-iTE
RADAR-iTE ist ein standardisiertes Risikobewertungsinstrument, das spezifisch für den polizeilichen Einsatz im Bereich Staatsschutz entwickelt wurde. Mit dem Instrument können Personen des islamistischen Spektrums, die polizeilich bekannt sind, hinsichtlich ihres Risikos für die Begehung einer politisch motivierten schweren Gewalttat in Deutschland bewertet werden. Auf der Grundlage einer standardisierten Fallaufbereitung werden Risiko- und Schutzmerkmale einer Person beurteilt und die Person einer zweistufigen Risikokategorie zugeordnet. Dies ermöglicht eine Priorisierung des Personenpotentials, was wiederum den effizienten Einsatz polizeilicher Ressourcen begünstigt.
Für die Anwendung von RADAR-iTE greifen die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter auf Informationen zurück, die ihnen bereits vorliegen oder die sie aufgrund der gültigen Rechtslage erheben dürfen. Die in RADAR-iTE abgefragten Informationen beziehen sich auf beobachtbares Verhalten – und nicht etwa auf Merkmale wie die Gesinnung oder Religiosität einer Person. Die Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter ziehen möglichst viele Informationen zu Ereignissen aus dem Leben der Person heran, die zum besseren Gesamtverständnis einer aktuell bestehenden Problemsituation notwendig sind. Für den Einsatz von RADAR-iTE muss ein Mindestmaß solcher Informationen vorliegen.
Die Risikobewertung wird mit Hilfe eines Risikobewertungsbogens mit standardisierten Fragen und Antwortkategorien durchgeführt. Die im Risikobewertungsbogen enthaltenen Fragen bilden sowohl risikosteigernde als auch -senkende Merkmale ab. Eine softwaregestützte, automatisierte Beantwortung der Fragen erfolgt nicht. Für die Bewertung der Merkmale ist immer die professionelle Einschätzung der zuständigen Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeiter, die in der Anwendung von RADAR-iTE beschult wurden, notwendig.
Nach Beantwortung aller Merkmale wird die bewertete Person auf Grundlage einer feststehenden Berechnung der Merkmale einer zweistufigen Risikoskala zugeordnet. Diese unterscheidet zwischen einem moderaten und einem hohen Risiko. Das moderate Risiko impliziert, dass in Bezug auf die Begehung einer politisch motivierten schweren Gewalttat kein unmittelbarer Handlungsbedarf besteht. Beim hohen Risiko liegt demgegenüber ein hoher Handlungsbedarf vor.
In der Folge werden zu Hoch-Risiko-Personen, die mit RADAR-iTE identifiziert wurden, unter der Geschäftsführung des BKA personenbezogene Fallkonferenzen in der Arbeitsgruppe Risikomanagement (AG RIMA) des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) durchgeführt. Ziel der Arbeitsgruppe ist es, den Erkenntnisaustausch mit den Länderdienststeilen und weiteren involvierten Behörden (z. B. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) zu fördern, eine einvernehmliche Bewertung der Person und ihres Risikopotenzials zu schaffen, erforderliche Handlungsoptionen für die bewertete Person abzuwägen und sich auf die Maßnahmenplanung behördenübergreifend zu verständigen.
Bedeutung
Mit RADAR-iTE können in erster Linie Priorisierungsentscheidungen getroffen werden. Das bedeutet, dass nur festgestellt werden kann, welche Risiko- und Schutzmerkmale bei einer Person vorliegen, wodurch die Fallpriorisierung ermöglicht wird. Welche tatsächliche Relevanz diese Risiko- und Schutzmerkmale im Einzelfall besitzen und wie sie miteinander verknüpft sind, lässt sich durch RADAR-iTE nicht beantworten. Dafür bedarf es einer Einzelfallbetrachtung, die sich mit den spezifischen Eigenheiten eines Falls auseinandersetzen kann, der Individualität eines Falls gerecht wird und eine personenbezogene Maßnahmenplanung ermöglicht. RADAR-iTE kann eine solche Einzelfallbetrachtung nicht ersetzen. RADAR-iTE ist vielmehr als Hilfsmittel zu verstehen, das unterstützend herangezogen wird. Es ergänzt somit die bereits unabhängig von einer RADAR-iTE-Bewertung zur Anwendung kommenden Standardmaßnahmen bei Gefährdern und Relevanten Personen im Bereich des polizeilichen Staatsschutzes.
RADAR-iTE leistet durch eine verbesserte Strukturierung und Dokumentation biografischer Verläufe bereits bekannter Personen des militant-salafistischen Spektrums eine wichtige Hilfestellung bei der Risikobewertung. Die von den Sachbearbeiterinnen und Sachbearbeitern vorgenommenen Bewertungen mit RADAR-iTE sind transparent und nachvollziehbar. Erstmals ist eine bundesweit einheitliche und vergleichbare Bewertung des Gewaltrisikos von polizeilich bekannten militanten Salafisten möglich. Mittels RADAR-iTE können die Ressourcen deutscher Sicherheitsbehörden zielgerichteter auf jene Personen ausgerichtet werden, bei denen ein hohes Risiko für die Begehung einer politisch motivierten schweren Gewalttat in Deutschland festgestellt wird.